Literatur:Planet Hoffnung

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Rollstuhlfahrer, Obdachlose, Flüchtlinge: Die Münchner Literaturstipendiaten verbindet diesmal auffallend stark eine Vorliebe für gesellschaftspolitische und soziale Themen

Von Antje Weber

Marion steht auf einer Münchner Demo, weil Andreas auch auf dieser Demo steht. Es geht um Massentierhaltung, Genaueres weiß sie selbst nicht. Was sie weiß: "Ich weiß, dass es richtig ist hier zu sein, weil die Masse ausschlaggebend ist". Was sie sich fragt: "Ich frage mich, ob ich nicht mehr tun könnte, als mein Körpervolumen zu geben und die Luftverdrängung meiner Handflächen". Was sie riecht: den Duft von Marihuana, aller Polizei zum Trotz, doch "es geht ja ums Aufbegehren und damit wahrscheinlich ums Prinzip".

Wahrscheinlich geht es ums Prinzip: In Sophia Klinks Romanprojekt "Kakaoschichten menschlicher Unwissenheit" ist sich die junge Ich-Erzählerin Marion ihrer Prinzipien offensichtlich noch nicht so recht sicher. Immerhin: Irgendeine Form von Engagement, und sei es nur um der Liebe willen, gehört offensichtlich zum Jungsein derzeit wieder selbstverständlich dazu. Und auch Schreiben scheint in diesen Tagen ohne Engagement kaum denkbar zu sein. Denn passend zu diesem Bücherherbst, in dem man sich gerade erst wieder auf der Frankfurter Buchmesse sehr politisch gab, beschäftigen sich auch die Münchner Literaturstipendiaten in diesem Jahr auffallend stark mit gesellschaftspolitischen und sozialen Themen.

Die 22-jährige Biologie-Studentin Sophia Klink erhält eines dieser sechs mit je 6000 Euro dotierten Stipendien, die alle zwei Jahre von der Stadt München vergeben werden. Und ihr sprachlich fein gearbeiteter Text handelt - ebenso wie ein ebenfalls ausgezeichnetes musikwissenschaftliches Übersetzungsprojekt von Richard Barth - trotz Demo-Besuch noch am wenigsten von sozialen Themen. Die anderen Texte dafür umso mehr: Der 1981 geborene Germanist und Pädagoge Markus Ostermair zum Beispiel nähert sich in seinem Projekt "Der Sandler" literarisch einem Obdachlosen an, in all seinen Widersprüchen. Sein Protagonist Karl, ein Ex-Mathematiker mit "Suffhirn", kämpft mit sich selbst: Wird er diesmal, mit frischem Geld in der Tasche, dem üblichen Exzess entsagen - oder doch der Empörung in seinen Eingeweiden nachgeben?

Um das Thema Krankheit geht es bei zwei weiteren Projekten: Die Autorin und Übersetzerin Silke Kleemann hat sich für ihr Jugendbuch "Manic Road Movie" mit einem Jungen beschäftigt, dessen Vater manisch depressiv ist. Jan Reinhardt wiederum, ein 22-jähriger Psychologie-Student, versetzt sich in das Leben eines Rollstuhl-Fahrers hinein, was ihm den parallel vergebenen Leonhard- und Ida-Wolf-Gedächtnispreis eingetragen hat. Das Romanprojekt beschreibt den jugendlichen Rollstuhlfahrer Elias, der seine Physiotherapeutin Dorschel hasst und Superhelden-Comics liebt. Dies sei jedoch "keine Geschichte über das Leben mit einer Behinderung", schreibt Reinhardt in seiner Projektvorstellung. Ziel sei vielmehr, "eine Abenteuergeschichte mit der Frage zu verbinden, ob Menschen loslassen können, wenn ihnen etwas genommen wurde".

Mit dieser Frage beschäftigen sich auf andere Weise, mindestens genauso hart, die Autoren Denijen Pauljević und Pierre Jarawan. Der Slawist Pauljević, 1974 in Belgrad geboren, verbrachte nach seiner Flucht während der Balkankriege selbst vier Jahre in einem Asylbewerberheim. In "Mimicria" kann er daher aus eigener Anschauung beschreiben, wie sich sein nach Deutschland geflüchteter Ich-Erzähler im trostlosen München-Freimann auf den Weg zum Containerlager macht und dies in Gedanken dem zurückgebliebenen Freund Lasar schildert: "In den Schatten zwischen den Lagerhallen tobte der Wind", heißt es da. "Keine Menschen zu sehen, Lasar. Die Gegend scheint vor nicht allzu langer Zeit wegen einer drohenden atomaren Zerstörung oder einer Pest-Epidemie verlassen worden zu sein." Der Flüchtling geht dennoch weiter, bis er am Ende der Straße, gegenüber von BMW, auf zwei Container auf einer Wiese stößt: das Asylbewerberheim. Drinnen angekommen, riecht es nach Chlor, bekommt der Erzähler ein Essenspaket mit einem halbaufgetauten Hähnchen in die Hand gedrückt und trifft einen Russen, der ihm gleich das Wichtigste klarmacht: "Heim ist Warteraum."

Das stellt auch der Poetry Slammer Pierre Jarawan, 1985 in Jordanien geboren, anschaulich dar. Sein Ich-Erzähler Samir reist in den Libanon, wo er die Geheimnisse seines Vaters ergründen will. Und er erinnert sich an die Anfänge der Familie als Flüchtlinge in einer deutschen Turnhalle. Dort erweist sich der Vater als begnadeter Erzähler. Von andächtig lauschenden Kindern umringt, funktioniert er die Turnhalle zu einem Raumschiff um: "Aus den schäbigen Duschen der Umkleidekabinen wurde eine High-Tech-Wellnessoase, in der kleine Roboter einem den Rücken schrubbten. Die Seitenauslinien des Basketballfeldes wurden zu Energiebeschleunigerstreifen". Ziel des Raumschiffs ist der Planet Amal, was im Arabischen Hoffnung bedeutet: "Und der Planet Hoffnung wurde in der Turnhalle bald zum geflügelten Wort."

Staunend beschreibt der Ich-Erzähler die Fähigkeit des Vaters, fabulierend der Realität zu entfliehen. Vielleicht ist das ein Schlüssel zu all diesen preisgekrönten Romanprojekten, die sich sehr konkret mit unserer komplexen Wirklichkeit beschäftigen: Erzählen hilft.

Münchner Literaturstipendien 2015 , Preisverleihung und Lesung, Mittwoch, 21. Okt., 19 Uhr, Literaturhaus, Salvatorplatz 1, Eintritt frei, Anmeldung: 29 19 34 27

© SZ vom 21.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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