Literatur:Inferno der Vorstadt

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Wo Idylle und Anpassungszwang dasselbe sind: In ihrem zweiten Roman "Kleine Feuer überall" erzählt die Bestseller-Autorin Celeste Ng das amerikanische Glücksversprechen als abgründiges Familiendrama.

Von Sofia Glasl

Der Suburb ist ein ur-amerikanischer Ort. Ordentlich aufgereihte Einfamilienhäuser, in den Auffahrten parkende Familienlimousinen und stoisch vor sich hinregnende Rasensprenger. In "Kleine Feuer überall", dem zweiten Roman der amerikanischen Autorin Celeste NG, heißt diese Vorstadt Shaker Heights. Wie gemalt schmiegt die Kleinstadt sich an Cleveland, Ohio. 1912 wurde sie von der namensgebenden Glaubensgemeinde, den aus dem Quäkertum hervorgegangenen "Shakern", am Reißbrett entworfen.

Alles ist durchorganisiert und vorgeschrieben, die Länge des Rasens, die Farben der Fassaden, die Karrieren der Bewohner. Schule, Uni, Familie, so sieht es die Gesellschaft vor, das ist das Ideal, nach dem alle streben. So auch die Richardsons - Vater Bill, Mutter Elena und die Teenager Trip, Lexie, Moody und Izzy. In welchem Jahrzehnt man sich befindet, ist in dem Vakuum der Planstadt lediglich an der aus heruntergekurbelten Autofenstern klingenden Musik zu erkennen. In diesem Fall Mitte der Neunziger: Alanis Morissette, "4 Non Blondes", "Cypress Hill". Im Kino ist gerade "Titanic" angelaufen, 9/11 hat noch nicht stattgefunden und das Land befindet sich im Aufschwung.

Utopisch oder austauschbar - das ist in diesem Vorstadtidyll genauso nah beieinander wie das Streben nach Glück und der Horror monotonen Stumpfsinns. Die amerikainsche Popkultur hat in dieser Kulisse schon Teenies ihre erste Liebe erleben, roboterhafte Jedermänner in der Midlifecrisis überschnappen und Psychokiller im Blutrausch alles niedermetzeln lassen. Celeste Ng nutzt diese Aufladungen und breitet die optische Illusion der Utopie genüsslich aus. Hinter der Plastikfassade kann alles und jeder lauern. Doch eins ist klar: "Veränderung kommt nicht von allein, sie muss geplant werden."

Celeste Ng nimmt gleich zu Beginn vorweg, dass das Idyll letztendlich in Rauch aufgehen wird. Der Roman eröffnet mit dem abgefackelten Haus der Richardsons. Lichterloh brennt es, die Feuerwehr geht von Brandstiftung aus, in jedem Zimmer seien kleine Feuer gelegt worden. Auch das Chaos ist durchorganisiert und hat die vorausschauende Lebensweise der Bewohner gegen sie selbst gewendet. Eine Schuldige ist gleich ausgemacht, das Sorgenkind und Unruhestifterin Izzy ist verschwunden, folglich muss sie die Täterin sein.

Was folgt, ist eine Spurensuche in Zeitlupe. So symmetrisch, wie in Shaker Heights alle Straßenzüge auf dem Reißbrett entworfen sind, bringt Celeste Ng ihre Figuren und Handlungsstränge in Position. Doch ihr intuitives Gespür für das Innenleben ihrer Figuren und die selbstbewusste Struktur ihrer Erzählung retten die scheinbar vorhersehbare Ausgangssituation. Der beinahe nervös von Person zu Person springende allwissende Erzähler beleuchtet Shaker Heights wie Straßenlaternen multiperspektivisch und lässt die so einheitlich ersonnene Stadt vielstimmig und mit einer Vielzahl von Untertönen erklingen.

Das Leben der Richardsons gerät ins Wanken, als die neuen Mieter einziehen: Die alleinerziehende Mutter und Künstlerin Mia Warren und ihre Tochter Pearl, bedeutungsschwanger nach dem unehelichen Mädchen in Nathaniel Hawthornes Roman "Der scharlachrote Buchstabe", benannt. Pearl ist froh, dass sie nach jahrelangem Nomadendasein mit der Künstlermutter irgendwo dazugehört und ein normaler Teenager sein kann. Normal heißt in Shaker Heights: Mit Freunden im Diner sitzen, mit Jungs flirten und auf Hauspartys den ersten Schnaps trinken. Von Mia aber geht zusehends eine freiheitliche Lebensphilosphie aus, die sich wie ein Virus in Shaker Heights ausbreitet: Sie freundet sich mit Izzy an, dem schwarzen Schaf der Richardson-Familie, hilft ihr bei einem Schulstreich und macht sie zu ihrer Assistentin. Von ihrer Kunst sagt Mia: "Ich fürchte, ich habe keinen Plan. Aber den hat eigentlich niemand, auch wenn alle das Gegenteil behaupten." Damit stellt sie sich auch ideologisch gegen die von der Ordnungsliebe indoktrinierten Bewohner in Shaker Heights, setzt dem durchgeplanten Leben eine kreative und dem Zufall geschuldete Lebenshaltung gegenüber. Es ist nur konsequent, dass ihr Werk mit dem der Fotokünstlerin Cindy Sherman verknüpft wird. Deren Zyklen über Rollenbilder und soziale Masken reflektieren die Fassaden der unterschwellig brodelnden Kleinstadt und verzerren sie zu hässlichen Fratzen. Mit ihrem Porträt ihrer Heimatstadt Shaker Heights gelingt Celeste Ng im Kleinen das Psychogramm einer von Klasse und Privilegien besessenen Gesellschaft, die Assimilation als einzig legitime Lebensweise anerkennt. Sie bedient sich dabei eines schlauen Kniffes, der die heile Welt der Neunziger als düsteren Vorboten der heutigen Lage in den USA denkt und den etablierten Topos der abgründigen Vorstadtidylle satirisch aufgreift: Shaker Heights soll das Utopia seiner Bewohner sein, muss sich dafür jedoch von der Außenwelt nahezu abkapseln. Glück und Gleichgewicht können hier nur durch erzwungene Ordnung aufrechterhalten werden. Schlaglichtartig setzt Ng in dieses zeitlose Vakuum mediale und kulturelle Referenzen, ganz nebenbei, etwa als Nachrichtenschnipsel. Diese kulturellen Verknüpfungen setzt sie jedoch genau so, dass sie dem Leser einen Wissensvorsprung gegenüber den Figuren gewähren und die Utopie zu einem Kippbild aus Wunschdenken und Wirklichkeit wird.

Als Freunde der Richardsons zum Beispiel ein asiatisches Findelkind adoptieren wollen, versucht sich die leibliche Mutter vor Gericht zu wehren. In der Berichterstattung, die diesen Prozess begleitet, wird deutlich, dass der vermeintlich im Stadtkonzept eliminierte Rassismus noch immer sehr präsent ist. Lexies Beteuerungen, ihr afroamerikanischer Freund Brian sei Beweis dafür, dass die Ethnie in der Stadt keine Rolle spiele, verhallt wie naiver Spott, zumal er seine Eltern scherzhaft Claire und Cliff nennt - nach der hyperassimilierten Serienfamilie der "Bill Cosby Show". Zwar kann Brian in den 1990ern noch nicht wissen, dass deren Image durch einen Missbrauchsskandal dereinst beschädigt werden wird. Doch im Roman scheint diese dramatische Ironie schon in den Nachrichten auf, als Bill Clinton sich stotternd zu seiner Affäre mit Monica Lewinsky äußert und genötigt wird, die Maske des organisierten Jedermanns zu lüften.

Celeste Ng: Kleine Feuer überall. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. DTV Literatur, 384 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 26.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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