Literatur:Dieses wilde, unberechenbare Leben

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Eduard von Keyserling im Jahr 1900, gemalt von Lovis Corinth. (Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlung; Neue Pinakothek)

Vor 100 Jahren starb Eduard von Keyserling in München - ein Erzählband und ein Abend erinnern an ihn

Von Antje Weber, München

Man stelle sich vor: Es ist Sommer, und alle dürfen ihn genießen - nur einer nicht. Weil er im Abitur durchgefallen ist und nachsitzen muss, vor "verschimmelten Büchern". Ein wahrhaft scheußliches Schicksal also muss der junge Ich-Erzähler in Eduard von Keyserlings Erzählung "Schwüle Tage" durchleiden; denn natürlich kommt er auf dem Gutshof, auf den er sich verbannt fühlt, auch in Liebesdingen nicht voran. Und dann muss er noch mit ansehen, wie sein eigener Vater über einer heimlichen Affäre so verzweifelt, dass er sich am Ende umbringt. "So etwas also kann man erleben - so unheimlich ist das Leben...?" fragt sich der Sohn verstört. Denn auch wenn es, oberflächlich betrachtet, ruhig wirken mag: "mitten drin steht etwas Wildes - etwas Unbegreifliches".

Diese Wilde, dieses Unbegreifliche, das im Gefolge der großen Themen Liebe und Tod in jedem Leben mitschwingt - Eduard von Keyserling beschreibt es in seinen Erzählungen so konzentriert wie kaum ein anderer Schriftsteller, in immer neuen Variationen. Es wird sehr viel unglücklich geliebt in seinem Werk, und es wird ziemlich ausführlich gestorben. Doch auch was dazwischen passiert, wie sich kleine und große Gefühle entwickeln und in manchmal verquere Handlungen oder einen ebenso verqueren Stillstand münden, fängt er wirklich meisterhaft ein.

An diesem Freitag vor hundert Jahren ist Eduard von Keyserling (1855 bis 1918) selbst gestorben, in der Ainmillerstraße 19 in München. Geschätzt wurde dieser Schriftsteller immer; Hermann Hesse zum Beispiel schrieb schon zu seinen Lebzeiten, er verstehe "einen Sommernachmittag so zu beschreiben, dass man während seines Glühens und Verdämmerns das Gefühl des ganzen Lebens hat". Und erst kürzlich hat sich der Schriftsteller Klaus Modick mit dem Roman "Keyserlings Geheimnis" der Biografie des baltischen Adeligen genähert, dessen Jugend ebenfalls von der einen oder anderen scheußlichen Episode gekennzeichnet war, weshalb er sich nach einigem Hin und Her 1895 in München niederließ. Hier erblindete der nunmehr Schwabinger Bohemien infolge einer schweren Syphilis so allmählich wie unerbittlich; zwei bei ihm lebende Schwestern umsorgten ihn. Die Szenen, die der Erblindende ihnen diktierte, sind ihm umso farbiger geraten.

So empfindet es zumindest Florian Illies. Denn mit einem Nachwort des Autors (und künftigen Rowohlt-Chefs) erscheint nun eine sehr schöne Gesamtausgabe von Keyserlings Erzählungen bei Manesse; an diesem Freitag wird der dicke Band "Landpartie" bei einer - ausverkauften! - Keyserling-Nacht im Literaturhaus vorgestellt. Was den Nachruhm angeht, so bewegt er sich offensichtlich vom immer wieder neu zu entdeckenden Geheimtipp in Richtung eines gefestigten Klassikers.

Am besten wäre ja, er würde einfach gelesen. Dabei empfiehlt sich die Methode, die Illies vorschlägt: das Verschlingen. Also nicht das Herantasten, sondern "das Hineinspringen in diese Prosa, als wäre es ein sonnenbeschienener See an einem Spätsommertag". Dann funktioniert tatsächlich, was sich nur unzureichend beschreiben lässt: Man lässt sich von den ganz unprätentiösen Sätzen sofort mittragen. Das klappt sogar bei einer frühen Geschichte mit dem eher abschreckenden Titel "Das Sterben. Ein Sommerbild", in der Keyserling ganz schlicht und ganz tief vom Tod einer alten Bäuerin erzählt. Denn er schreibt ja nicht immer nur - atmosphärisch dabei oft an Tschechow erinnernd - von einer fernen Landadelswelt im Osten.

Aber doch oft, und: So fern ist sie letztlich gar nicht, denn alles Menschliche ist ja immer und überall da. Keyserling kennt sich einfach nur so gut aus in diesen Kreisen. Und wenn er in "Bunte Herzen" von den Nöten des alten Grafen Hamilkar von Wandl-Dux mit einem herzzerreißenden Techtelmechtel seiner Tochter erzählt, dann glänzen nicht nur die beschriebenen Levkojen wie "krause, hellfarbige Seide", sondern auch die schmerzlichen Einsichten, die man aus dieser Erzählung herauslesen kann. Denn naiv deskriptiv ist Keyserling nie, dafür oft fein ironisch, und ausgestattet mit einem guten Gespür für Ambivalenzen. Zum Beispiel auch, wenn er in seinen späten Erzählungen über den Krieg schreibt. Und wenn darin, wie in der Erzählung "Im stillen Winkel", selbst schwächlichen Jungs beim Schützengraben-Spiel eine "grausame Lust" in die Glieder fährt.

Keyserling jedenfalls weiß um die Unzulänglichkeiten der Menschen und der oft albernen Regeln, die sie sich selbst auferlegen. Er weiß auch wie eine unglücklich liebende Figur namens Hugo von Wirden, dass man vom Glück kurzer Augenblicke manchmal lange zehren muss. Denn das Leben ist unberechenbar: "Abrechnungen stimmen zuweilen, aber das Leben stimmt nicht; wo es aufhört zu stimmen, da fängt das Leben an."

© SZ vom 28.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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