Literatur:Die Knochen der Ahnen knutschen

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In seinem fiktiven Reportage-Roman spürt der polnische Autor Ziemowit Szczerek der ukrainischen Seele nach. Nun stellt er sein ausgezeichnetes Werk im Muffatcafé vor

Von Anna Steinbauer

Warum er in die Ukraine wolle, fragt der Beamte an der polnisch-ukrainischen Grenze. Die Knochen seiner Ahnen knutschen, sagt Lukasz. Obwohl diese schlagfertige Antwort nicht komplett der Wahrheit entspricht, enthält sie doch im Kern das, was alle Polen antreibt, die die Ukraine bereisen: die Suche nach dem postsowjetischen Osten, dem "Russigen" und Kaputten.

Oder auch in die Tiefen dessen vorzudringen, was die Polen im eigenen Land hassen. Zumindest wenn man dem polnischen Journalisten und Autor Ziemowit Szczerek und seinem fiktiven Reportage-Roman "Mordor kommt und frisst uns auf" glaubt. In die Ukraine zu fahren ist eine "Reise in die Schadenfreude", wie es der Protagonist formuliert. "Eine Reise, auf die man sich begibt, um einen Anlass zur Rückkehr zu haben. Weil es im Grunde hier ist wie bei uns, nur deutlich intensiver. Eine Sondermülldeponie für alles, was wir loszuwerden versuchen." Ein Spiegel für den Umgang mit der Sowjetvergangenheit, der Zerrissenheit zwischen Westhörigkeit und der Angst vor den Russen?

Auch wenn Lviv an der Westgrenze der Ukraine liegt, ist dort der Konflikt sehr präsent. (Foto: Markiian Lyseiko/dpa)

Im Roman begibt sich der junge Journalist Lukasz auf mehreren Roadtrips quer durch das Nachbarland. Mit rotzigen Sprüchen auf den Lippen und reichlich Vigor-Balsam ausgerüstet - eigentlich einem ukrainischen Potenzmittel, das aber alle polnischen Backpacker konsumieren - spürt er der ukrainischen Seele nach. Von Lwiw in den ruinösen Osten, nach Transkarpatien und bis zur Krim - immer auf der Suche nach Hardcore, Ostromantik und Abenteuer. Dabei betreiben der von Jack Kerouac inspirierte Autor sowie sein Alter Ego Gonzo-Journalismus vom Feinsten, intellektuell ausgeklügelt und punkig unterhaltsam.

Ziemowit Szczerek gelingt es vorzüglich, den Gonzo-Journalismus wiederzubeleben. (Foto: Markiian Lyseiko/dpa)

Ob westukrainische Separatisten, Punker oder korrupte Polizisten: Szczereks Stärke liegt in der Überzeichnung und dem Spiel mit den gängigen Klischees über den "Wilden Osten", die so manchen westlichen Blick herrlich entlarven. Der 1978 geborene Autor, der selbst jahrelang die Ukraine bereiste, wurde für seinen Roman mit dem Paszport-Preis der "Polityka" ausgezeichnet und für den Nike-Literaturpreis nominiert, die wichtigste literarische Auszeichnung Polens. Zusammen mit seinem Übersetzer Thomas Weiler steht er nun auf der Shortlist für den "Internationalen Literaturpreis - Haus der Kulturen der Welt". Szczerek liest im Rahmen von "Zehn Jahre Gut gepolt! - Lesereihe polnischer Gegenwartsautoren", die die Übersetzerin und Moderatorin Agnieszka Kowaluk 2007 initiierte.

Ziemowit Szczerek: Mordor kommt und frisst uns auf, Lesung, Fr., 2. Juni, 20 Uhr, Muffatcafé im Muffatwerk, Zellstraße 4

© SZ vom 02.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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