Manchmal, so schreibt Samira, "glaub ich jetzt schon morgens den muezzin zu hören dann könnt ich heulen vor glück". Wenn man ihre Whatsapp-Nachricht heute liest, dann fröstelt man: Samira hat sie vier Tage vor ihrer Ausreise geschrieben; vier Tage, bevor die junge Wienerin im April 2014 heimlich nach Syrien flog, um dort dem IS zu dienen und vielleicht auch einem "feschen krieger".
Der Münchner Schriftsteller Fridolin Schley hat Samiras letzte Wiener Tage und Äußerungen ursprünglich für ein Onlineprojekt dokumentiert, nun sind sie in der von ihm herausgegebenen Anthologie "Fremd" noch einmal auf Papier nachzulesen. Die meisten der Texte sind jedoch eigens für den Anlass entstanden. Ganz konkret entwickelte sich die Idee zu diesem Buch, so ist in Schleys Vorwort zu lesen, aus einem "Moment großer Befremdung" heraus. Bei einer etwas absurden Anti-Pegida-Demo in Haidhausen im vergangenen Winter fragten sich Schley und sein Autoren-Kumpel Max Dorner, wie man als Schriftsteller mit dem Phänomen der Fremdheit umgehen könne und solle. "Wenn das Große so kompliziert ist, muss man beim Kleinen anfangen, bei sich selbst", sagte Dorner. Und so kam es, dass sich zahlreiche Münchner Autoren und Journalisten zusammentaten, in der Café-Buchhandlung Lost Weekend lasen, ihre Texte beim Literaturportal Bayern hochluden und nun im Verlag P. Kirchheim auf Papier veröffentlichen konnten. Etliche von ihnen werden auch bei einer weiteren Veranstaltung dabei sein: Christine Auerbach, Doris Dörrie, Lena Gorelik, Daniel Grohn, Andrea Heuser, Daniel Jaakov Kühn, Thomas Lang und Gunna Wendt lesen am 14. Januar in der Buchhandlung Lentner am Marienplatz.
Es sind sehr unterschiedliche Autorinnen und Autoren mit sehr eigenen Ansätzen, die da zusammenkommen. Nicht alle ihrer Texte sind große Literatur, doch darum geht es hier auch gar nicht. Wer das vergangene Jahr in München verbracht hat und nicht blind oder taub ist, wer sich also mit dem Phänomen der Fremdheit, von Flüchtling bis Pegida, freiwillig oder notgedrungen auseinandergesetzt hat, dem bietet dieser Reader ein breites Spektrum an einheimischen Stimmen. Zum Nachlesen, zum In-sich-Hineinhören.
Versammelt sind Geschichten von Lena Gorelik, Dagmar Leupold, Doris Dörrie, Thomas Lang oder Sandra Hoffmann. Beeindruckend ist zum Beispiel ein Text von Margarete Moulin, die einer traumatisierten Frau aus Burundi beisteht - weil er ganz ohne Selbstbeweihräucherung zeigt, was jeder von uns tun kann. Christine Auerbach wiederum berichtet von einer Begegnung mit einem Asylbewerber, der Strategien entwickelt hat, um im erzwungenen Nichtstun nicht verrückt zu werden. Emel Uğurcan kann beredt davon erzählen, wie ihr Name sie stigmatisiert. Und Andreas Unger versucht, dem Pegiden in sich selbst auf die Schliche zu kommen. Er analysiert seine eigenen Vorurteile angesichts verhüllter Frauen auf der Straße und osteuropäischer Kellnerinnen im Wirtshaus und fragt sich: "Was sind das für Ablagerungen, die sich auf dem Untergrund meines Bewusstseins festgesetzt haben?" Und: "Bin ich hier eigentlich der Einzige?"
Natürlich ist er nicht der Einzige. Weshalb es aufschlussreich ist, sich mit ihm und den anderen Autoren dieser Anthologie nicht nur zu fragen: "Bist du pegide?" Sondern ehrlicher: "Wie pegide bist du? Und: Bist du stolz darauf?"
Lesung am Donnerstag, 14. Januar, 20 Uhr, Buchhandlung Lentner, Marienplatz