Literatur:Brückenbauer nicht ganz wider Willen

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Der Nobelpreisträger Orhan Pamuk lässt aus seinem neuen Buch lesen und erklärt die politische Situation der Türkei

Von Luise Checchin

Eigentlich ist er für mich ja immer mehr ein europäischer als ein türkischer Schriftsteller gewesen", hört man die Dame zwei Reihen hinter einem sagen. Der Saal im Münchner Literaturhaus ist ausverkauft, und wer die Lesung des Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk von einem anständigen Platz aus erleben möchte, der ist früh gekommen und diskutiert schon vorher eben unter anderem diese Frage: An welchem Punkt zwischen Orient und Okzident ist der Istanbuler Autor Orhan Pamuk heute zu verorten? Dass die Frage nicht ganz einfach zu beantworten ist, räumt auch die Journalistin Cornelia Zetzsche ein, die den Abend moderiert. Als "Brückenbauer" stellt sie Pamuk vor. Allerdings, fügt sie gleich hinzu, möge der Autor dieses Etikett nicht besonders gerne.

Tatsächlich sind Pamuks Bücher von der europäischen Romantradition beeinflusst und gleichzeitig tief in der türkischen Kultur verankert. Hinzu kommt, dass Pamuk sich regelmäßig zu politischen Fragen äußert, von der Aufnahme der Türkei in die Europäische Union, die er befürwortet, über Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Flüchtlingsfrage. Europäer lassen sich von Pamuk gerne die Türkei und noch lieber sich selbst erklären.

In der aktuellen Weltlage ist Pamuk als politischer Kommentator gefragter denn je, für seinen Geschmack etwas zu gefragt. In Interviews gibt er derzeit deutlich zu verstehen, er wolle über Literatur und nicht über Politik sprechen. Trotzdem dürften auch an diesem Abend im Literaturhaus nicht wenige Besucher vor allem gekommen sein, um den engagierten Intellektuellen zu sehen und weniger, um etwas über Pamuks neuen Roman zu erfahren.

In "Diese Fremdheit in mir" erzählt Pamuk die Geschichte von Mevlut, der in den Sechzigerjahren aus einem armen anatolischen Dorf nach Istanbul kommt, um auf der Straße "Boza" zu verkaufen, ein traditionelles, leicht alkoholisches Getränk. 40 Jahre begleitet Pamuk seinen etwas unbeholfenen, aber gutmütigen Helden. Er erzählt, wie Mevlut sich in verschiedenen Berufen versucht, es aber nie zu Geld bringt, wie er das falsche Mädchen entführt und trotzdem mit ihr glücklich wird. Das alles darf erzählt werden, denn Pamuk tut es selbst auf den ersten Seiten. Die Idee, man dürfe das Ende eines Romans nicht verraten, habe ihn immer geärgert, sagt er.

Auch an diesem Abend scheint Pamuk nicht besonders erpicht darauf zu sein, sich an Konventionen zu halten. Der Autor zeigt keine große Lust, die Fragen der Moderatorin Zetzsche zu beantworten. Eigentlich, bekommt man das Gefühl, wäre es ihm am liebsten, man ließe den Roman für sich sprechen und er selbst würde ihn lediglich ein bisschen flankieren. So geschieht es dann auch erst einmal. Der Sprecher Helmut Becker liest das erste Kapitel von "Diese Fremdheit in mir"; und Pamuk kommentiert den Text, wo es ihm nötig erscheint.

Im Laufe des Abends erfährt der Zuhörer dann aber doch einiges über den neuen Roman. "Diese Fremdheit in mir" ist das erste Buch Pamuks, das ganz und gar im Arbeitermilieu angesiedelt ist. Pamuk, der selbst aus einer reichen, westlich orientierten Istanbuler Familie stammt, räumt ein, dass sein Protagonist ihm in vielerlei Hinsicht fremd gewesen sei. Um so authentisch wie möglich zu schreiben, habe er unzählige Interviews geführt, mit Boza-Verkäufern, Polizisten, Stromablesern. Sechs Jahre habe er hart daran gearbeitet, sich mit seinem Helden zu identifizieren, erzählt Pamuk; und dass ihm das schließlich gelungen sei, liege vor allem an der Faszination für die Stadt Istanbul, die Autor und Hauptfigur gemein hätten: Wie sein Protagonist gehe er durch Istanbul mit einem Gefühl, das man "romantische Imagination" nennen könne, dem Eindruck, ganz mit der Stadt verschmelzen zu können. Und wie seinem Protagonisten sei ihm außerdem "ganz wirr im Kopf", so sehr habe die Stadt sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert - architektonisch, demografisch, atmosphärisch.

Die Begleiterscheinungen dieser Umbrüche beschreibt Pamuk ganz nüchtern. Er erzählt von Korruption, von der Verfolgung von Minderheiten, von der schwierigen Stellung der Frauen. Und damit auch dieser Abend nicht "zu rosig" wird, wie Cornelia Zetzsche befürchtet, lenkt sie das Gespräch schließlich doch noch auf die aktuelle Politik.

Wie Pamuk die Entwicklung der Pressefreiheit in der Türkei einschätze, will sie wissen. Pamuk lässt sich nicht lange bitten und erklärt, dass er die Situation "sehr schlimm" finde. Als Journalist Kritik an der Regierung zu äußern, werde zunehmend schwieriger. Im Grunde laufe es immer gleich ab: Zuerst werde einem kritischen Journalisten gedroht, dann werde eine Kampagne gegen ihn geführt. Es folge eine Einladung des Staatsanwalts, dann die Anklage. Sei er dann immer noch nicht eingeschüchtert, würden dem Journalisten Prügel angedroht, irgendwann werde er tatsächlich verprügelt und ganz zum Schluss lande er im Gefängnis. Soviel also zur Lage in der Türkei.

Weil Pamuk aber auch an diesem Abend seiner "Brückenbauer"-Rolle gerecht werden soll, gibt es auch noch eine Frage zu Europa. Was er sich in der Flüchtlingskrise vom Westen wünsche, will Zetzsche wissen. Er wünsche sich nichts, entgegnet Pamuk, aber man erlaube ihm eine Beobachtung: Die EU erwarte von der Türkei, dass diese eine "Filterrolle" ausübe. Sie solle die Flüchtlinge aufhalten, dafür sei Europa bereit, Geld zur Verfügung zu stellen und die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu verschließen. "Das finde ich überhaupt nicht in Ordnung", resümiert Pamuk. Zustimmendes Klatschen im Publikum, das bis dahin nur ein paar amüsierte Lacher von sich gegeben hat.

Allerdings, räumt Pamuk ein, verstehe er Europas Politiker in gewisser Weise. Deren Wähler interessierten sich eben nicht für die Türkei, denen sei vor allem daran gelegen, keinen asiatisch oder muslimisch aussehenden Menschen auf der Straße begegnen zu müssen. Noch bevor das Publikum Gelegenheit hat, länger über diesen Satz nachzudenken, fügt Pamuk hinzu: "Aber Sie lesen meine Bücher, Sie sind nicht wie diese Menschen. Deswegen ist es für mich besonders schön, heute Abend mit Ihnen zusammen zu sein." Da applaudiert der Saal, laut und lange, bis auch der letzte Verdacht darüber weggeklatscht ist, ob nicht auch eine gewisse Portion Ironie in Pamuks Worten gelegen haben könnte.

© SZ vom 19.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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