Da sitzt sie also, die Baronin Zenaide Waldmann, und wartet in ihrer engen Dreizimmerwohnung in der Äußeren Schellingstraße 15, Rgb. III. Stock, auf ihre Teegäste. Es duften die Käsestangen, "die Lockspeise, ohne die sie ganz zu vereinsamen zitterte". Und es wabert bald der Klatsch, den Zenaide in schönster bayerisch-französischer Melange von sich gibt. "Ta, ta ta, das Mädel ist nicht hoffähig", ätzt sie zum Beispiel über die schöne Daphne Herbst, die neu in der Gesellschaft aufgetaucht ist: "Sa mère est déjà comme ça auf der Brennsupp dahergeschwommen." Und so geht es über mehrere Seiten weiter, bis die Münchner Schriftstellerin Annette Kolb den von ihr selbst erweckten unvorteilhaften Eindruck der Hofdame so zusammenfasst: "Selbst der Tod würde diese alte Eintagsfliege suchen und dort hinstrecken müssen, wo sie wirklich war: in Gesellschaft, mitten in einem nichtigen Gespräch."
Es ist einfach köstlich, wie Annette Kolb "Daphne Herbst" anfangen lässt; spottlustig und detailgenau entwirft sie in diesem Roman ein bunt oszillierendes Bild der Münchner Prinzregentenseligkeit mit ihren Salons, ihren Hofbällen. Noch will in dieser behaglich trägen Epoche kaum einer den Niedergang wahrhaben, der bald in den Ersten Weltkrieg mündet. In der "Stickluft" der gehobenen Kreise dreht sich speziell für Frauen das Leben nur darum, standesgemäß zu heiraten - nichts ahnend, "wie balde sie einer völlig veränderten Welt gegenüberstehen" sollten. Einer Welt, die sie bald zur Arbeit zwingen würde, als Stenotypistin oder Gutssekretärin - was für die Frauen, nebenbei, "weit größere Möglichkeiten des Glückes und der Freiheit" bereithalten sollte.
Annette Kolb jedenfalls ahnte so manches, und früher als andere. An diesem 3. Dezember ist der 50. Todestag dieser höchst bemerkenswerten Schriftstellerin, die in 97 Jahren fast ein ganzes Jahrhundert durchlebte und teils durchlitt. Wer ihr Werk noch nicht kennt, dem sei als erstes "Daphne Herbst" (1928) empfohlen, eine besonders lebendige Schilderung des Münchner Vorkriegslebens, obwohl gegen Ende auch recht viel gestorben wird. Berühmter noch ist der thematisch ähnliche Roman "Die Schaukel" (1934), in dem die Schriftstellerin ebenfalls die bessere Münchner Gesellschaft anhand einzelner Familien beleuchtet; stark autobiografisch grundiert im Übrigen, denn Annette Kolbs Mutter führte selbst einen illustren Vorkriegs-Salon. Und auch bereits der erste Roman "Das Exemplar" (1913) hatte sehr schillernd ein ungewöhnliches Frauenleben zwischen Spleen und Selbstbehauptung geschildert.
Glücklicherweise kann, wer den Kolb-Kosmos entdecken will, auf verschiedenste Ausgaben zurückgreifen. Die drei Romane sind in einem Fischer-Taschenbuch zusammengefasst, "Das Exemplar" liegt zudem in einer bibliophilen Ausgabe der Münchner Edition Fünf vor, und Allitera hat schon vor Jahren Kolbs Exiltexte zugänglich gemacht. Und nun gibt es sogar noch eine kommentierte Werkausgabe bei Wallstein; die Herausgeber Hiltrud und Günter Häntzschel stellten sie in dieser Woche im Literaturarchiv Monacensia vor, das auch den Nachlass der Schriftstellerin besitzt - und die Räume in jener Villa, in der einst schon Kolb den Bildhauer Adolf von Hildebrand besuchte, waren übervoll an diesem Abend.
Zumindest in München ist Annette Kolb also mitnichten vergessen - und das aus gutem Grund. Nicht nur hat sie noch heute lesenswerte Werke geschrieben. Sie hat sich auch, selbst Tochter einer Pariser Pianistin und eines Münchner Gartenarchitekten, zeitlebens vehement für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt. Und für den Pazifismus, ungeachtet der für sie schweren Folgen: Gleich drei Mal musste sie in ihrem Leben emigrieren; zuletzt floh sie 1941, als bereits über Siebzigjährige, vor den Nationalsozialisten von Paris nach New York.
Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie wieder in München, erst in Hotels, dann in der Händelstraße; begraben ist sie auf dem Bogenhausener Friedhof. Wer sie noch kennenlernen durfte, wie der Literaturkritiker Albert von Schirnding, erinnert sich an eine eigenwillige bis leicht skurrile Grande Dame, die auch zu "kleinen angeborenen Schwindeleien" neigte. Was nichts daran ändert, dass sich Annette Kolb gut als Vorbild eignet, als kluge Schriftstellerin und überhaupt mutige, in jeder Hinsicht unabhängige Frau - zumal in Zeiten, in denen das nicht nur nicht vorgesehen, sondern überdies gefährlich war. Wie schade zum Beispiel, dass niemand auf sie hörte, als sie 1928 ihre "Daphne Herbst" mit einem Friedensappell enden ließ. "Nichts sichert unseren Bestand", wusste sie besser als viele andere, "nichts garantiert, dass unsere herrlichsten Errungenschaften nicht Werkzeuge unseres Irrsinns, unseres Unterganges werden, denn eine vorsintflutliche Menschheit sind wir noch immer."