Literatur aus Belgien:Die Beschädigten

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Leide oder lass andere leiden, schau hin oder schau weg: In ihrem Debütroman "Und es schmilzt" erzählt die belgische Bestsellerautorin Lize Spit von einer traumatischen Jugend in einem kleinen flämischen Dorf.

Von Sofia Glasl

Falls man nicht tief genug fällt, bricht das Genick nicht. Dann dauert es lange. Und falls man aus zu großer Höhe fällt, zerreißt es einem das Genick, das will man den Menschen, die einen finden, nicht antun." Die vierzehnjährige Eva wurde von ihrem Vater in den Bastelschuppen geführt und er zeigt ihr mit gewissem Stolz seine selbstgeknüpfte Schlinge, die inmitten von Werkzeugen und Gartengeräten von der Decke baumelt. Ungerührt schaut sie sich seine Vorführung an.

"Und es schmilzt" heißt der Debütroman der belgischen Schriftstellerin Lize Spit. Und von Beginn an geht es in diesem Roman unbehaglich zu. Evas Eltern sind beide Alkoholiker, regelmäßig müssen spitze Gegenstände aus dem Haus geschafft werden, weil auch die Mutter suizidal ist. Eva ist das mittlere von drei Kindern und zugleich die Ich-Erzählerin dieses Romans, einer teilweise autobiografisch angelegten Coming-of-Age-Geschichte, mit der Lize Spit in ihrem Heimatland schlagartig bekannt und zu einem Literaturstar wurde.

Eva berichtet in drei parallelen Erzählsträngen, die sie mit dem Spannungsbogen eines Thrillers ineinander verschlingt. Es geht um die Kindheit mit den Kumpels Pim und Laurens im flämischen Kaff Bovenmeer. Es geht um den Sommer 2002, in welchem ein einschneidendes Erlebnis die Idylle der als "Drei Musketiere" aufgewachsenen Jugendlichen erschüttert und Eva aus dem Heimatort nach Brüssel in ein neues Leben getrieben hat. Und es geht schließlich um ein Jubiläumsfest etwa 13 Jahre nach diesem letzten gemeinsamen Sommer.

Eva erzählt ihre Geschichte rückblickend auf dem Weg zu diesem Treffen. Sie hat einen riesigen Eisklotz im Kofferraum und der scheint etwas mit ihrer entgleisten Jugend und Freundschaft zu tun zu haben.

Den Jungs ein Kumpel, den Mädchen zu burschikos: Eva gehört nirgendwo richtig dazu

Distanziert und doch minutiös bis ins letzte Detail protokolliert sie die eigene Geschichte und vermittelt zunächst den Eindruck, dass sie einen Neuanfang geschafft hat und zurückkehrt, um sich mit der Vergangenheit zu versöhnen. Doch verrät Eva sich in den Zeitformen, mit denen sie aus ihrem früheren Leben erzählt. Entgegen der zeitlichen Abfolge der Handlung, die in der parallelen Engführung der Erzählebenen leicht der Wahrnehmung entgeht, notiert sie die Ereignisse des Sommers 2002 im Präsens. Zu tief eingebrannt haben sie sich in ihr gesamtes Wesen, als dass sie in der Vergangenheit davon berichten könnte. Lediglich die zur unbeschwerten Kindheit verklärte Zeitebene wird in der Vergangenheit erzählt, da sie auch emotional unwiederbringlich verloren ist.

Schnörkellos werden die pubertären Sorgen und Nöte beschrieben, die Eva den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohen. Als Laurens und Pim in jenen Sommerferien beginnen, die Klassenkameradinnen in einem Schönheitsranking zu verewigen und Eva außen vor lassen, wird ihr bewusst, welch Sonderling sie eigentlich ist. Von den Jungs als Kumpel und von den Mädchen als zu burschikos wahrgenommen, gehört sie nirgendwo wirklich dazu und versucht ihre Einsamkeit damit zu kompensieren, es allen irgendwie recht zu machen.

Deshalb lässt sie sich auch breitschlagen, den beiden Freunden dabei zu helfen, die Rangliste mit Fakten zu untermauern. In umgekehrter Reihenfolge werden die Mädchen einzeln geladen und müssen in einer abgewandelten Form des Strip Poker ein von Eva gestelltes Rätsel lösen.

Auch hier spielt eine Galgenschlinge eine entscheidende Rolle, auch hier zieht sie sich unmerklich fester um ihre Opfer. Jede falsche Antwort kostet die Spielerinnen ein Kleidungsstück. Bei der Nummer eins auf der Liste sind sie alle aufgeregt: die Jungs, weil sie die unaussprechliche Hoffnung hegen, das Mädchen anfassen zu dürfen, Eva, weil sie angewidert davon ist, wie ihre einstigen Kumpels plötzlich mit Mädchen umgehen. Die letzte Runde geht deshalb auch gewaltig schief und eskaliert in einer Vergewaltigungsszene, die sowohl Eva als auch den Leser wie ein Magenschwinger aus dem Nichts trifft. Der Detailreichtum der Grausamkeiten in dieser Szene sucht seinesgleichen und löst den Impuls aus, das Buch auf die Seite zu legen.

Die drastische Gewaltdarstellung ist Teil eines subtilen Anschlags auf den Leser

Wenn Jugendliche einander in jenem Bastelschuppen, in dem sich der suizidale Vater schon die Schlinge bereitgehängt hat, gegenseitig mit Gartenutensilien beschädigen und das über viele Seiten hinweg, muss das diskutiert und vielleicht auch davor gewarnt werden, selbst wenn eine der Schlüsselszenen des Romans ausgeplaudert ist. Doch geht es gerade in dieser Szene nicht ausschließlich um den Schockeffekt der drastischen Gewaltdarstellung, sondern um einen viel subtileren Anschlag auf den Leser.

Denn spätestens hier ist er Teil der Szene und in die Rolle des Voyeurs gedrängt, ein Umstand, der die explizite Gewaltdarstellung zwar erklärt, aber keinesfalls erträglich macht. In einem durchchoreografierten Wechselspiel von ungläubigem Hinsehenmüssen und angewidertem Wegsehenwollen involviert Spit ihr Publikum in diese krankende Dorfgemeinschaft, die immer nur heimlich hinsieht und hinter vorgehaltener Hand tuschelt, aber im richtigen Moment den im besten Fall mitleidigen Blick abwendet. Wie die Nachbarn, die einfach nur zuschauen, wenn Evas Mutter sich auf einer Quizveranstaltung im Gemeindesaal so die Kante gibt, dass sie vor den Augen aller in einer Schubkarre heimtransportiert werden muss, wohnt der Leser diesem immer weiter entgleisenden Spiel bei. Statt einzugreifen kann er lediglich versuchen, das Kopfkino auszuknipsen. Doch das mag nicht recht gelingen, zu sehr wühlt die rohe Gewalt auf, die sich durch pastellfarbene Schichten aus Kindheitsnostalgie und gesellschaftlicher Verdrängung Bahn bricht.

Die Aufklärung verschafft keinerlei Spannungsauflösung. Vielmehr zieht sie die Schlinge um den Hals des Lesers nur noch weiter zu und lässt ihn gemeinsam mit Eva sehenden Auges im letzten Akt auf der Jubiläumsfeier in den Abgrund stürzen. Dass diese Entgleisung Eva auch in der Gegenwart begleitet, ist nicht nur an der verwendeten Erzählzeit abzulesen. Das Dilemma mit der Schlinge wird die alles bestimmende Zwickmühle dieses Romans - entweder man selbst leidet oder man lässt andere leiden, entweder man schaut hin oder man schaut weg.

Lize Spit : Und es schmilzt. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 512 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 23.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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