Literarische Selbstfindung:Ich bin du

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Franz Kafka schreibt wie Dan Brown, der wiederum eher wie Edgar Allan Poe. Und John Irving? Der Schreibstil-Test "I write like" ist ein Renner im Internet.

Stephanie Drees

Selbstfindungsprozesse sind etwas Schwieriges. Eine der beliebtesten Aktivitäten beim Identitäten-Twisterspiel Facebook ist der Ähnlichkeitstest. Man kann erfahren, mit welcher Disneyprinzessin man seelenverwandt ist und welcher Menschentypus in einem schlummert, gemessen an den ganz Großen wie Charles Manson. Auch Artefakte aus Musik, Film und Literatur wurden stets damit verglichen, was zuvor im jeweiligen Genre passiert ist. Da kaum jemand etwas gänzlich aus sich heraus produziert, abgesehen von Gott, ist die Kunstreflexion auch immer eine Wissenschaft der Referenz.

Wer ist mein literarischer Zwilling? Ein Internetforum weiß die Antwort. (Foto: dpa)

Besonders in der Literatur gibt es diesbezüglich eine lange Tradition. Gerne arbeitet das Marketing von Verlagen mit dem geschickt eingesetzten Vergleich: " Xschreibt, als hätte Autor y während einer Liaison mit Kollegin z eine Frischzellenkur in der Toskana genossen." Oder so ähnlich. Und welcher Kritiker entdeckt nicht gerne einen neuen Carver, eine zweite Bachmann, einen dritten Airen?

Dank der modernen Technik ist die Verwandtschaftssuche nun noch einfacher. Auf der amerikanischen Seite "Iwrite like" ermittelt eine Maschine dank einem ausgetüftelten Algorithmus, welchem berühmten Autor der eigene Stil am nächsten ist. Schnell wurde die Erfindung des Russen Dmitrij Chestnykh zum Renner im Internet. Dieses Werkzeug kann die Beziehungen der literarischen Welt neu ordnen.Das Ganze basiert auf einem System, das eigentlich in der Welt der Zahlen zu wirtschaftlichem Nutzen führen soll. Der Bayes-Klassifikator ordnet jedes Objekt der Klasse zu, in die es mit der größten Wahrscheinlichkeit gehört: Dieses Verfahren wird auch gerne bei E-Mail-Spamfiltern benutzt. Das automatisierte Schubladendenken sortiert hier wie dort die Wörter.

Gibt man nun testweise eine Passage der offiziellen englischen Übersetzung von Kafkas "In der Strafkolonie" ein, so ist das Ergebnis: Dan Brown. Zunächst überraschend. Doch haben beide Autoren ja gemeinsam, dass sie gerne mit metaphysischen Elementen arbeiten und außerdem große Verschwörungstheoretiker sind.

Richtig interessant wird es, wenn man daraufhin Dan Brown eingibt, denn die Identitätsfrage ist bei "I write like" ganz schön kompliziert: Ich bin du, aber du bist nicht ich, heißt es. Dan Brown seinerseits, lautet die Auskunft, schreibt eher wie Edgar Allan Poe. Bleiben wir sicherheitshalber bei den englischen Originalen, so wird mit dem Testverfahren auch der Gendergap überwunden: John Irving schreibt wie die feministische Science-Fiktion-Grande-Dame Margaret Atwood. Mit diesem Wissen könnten die beiden, falls nicht schon der Fall, dickste Freunde werden.

Zuletzt probierte es die Autorin dieser Zeilen mit einer kleinen, übersetzten Passage ihres gedanklichen Ergusses. Und was kam dabei heraus? Steven King.

© SZ vom 26.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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