Leibniztag:Die Seele einer Fuchsnatur

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Die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger erforscht die Frühe Neuzeit an der Universität Münster. (Foto: dpa)

Barbara Stollberg-Rilinger spricht über "Aufrichtigkeit, Lüge und Verstellung" und ergründet, ob die gesellschaftliche Spaltung der Reformationszeit mit der heutigen vergleichbar ist.

Von Stephan Speicher

Im Zeitalter der Reformation und der Konfessionalisierung schien sich alles zu ändern und dies in unerhörter Geschwindigkeit. Neue Medien revolutionierten das öffentliche Leben, sie brachten eine Schärfe des Tons, eine Aggressivität mit sich, die man nicht für möglich gehalten hatte. Das Misstrauen gegeneinander wuchs, mäßigende Stimmen fanden schwer Gehör. Als Barbara Stollberg-Rilinger auf dem Leibniztag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Samstag den Festvortrag hielt unter der Überschrift "Aufrichtigkeit, Lüge und Verstellung. Was man vom konfessionellen Zeitalter lernen kann", warnte sie vor einem schnellen Vertrautheitsgefühl; das 16. und 17. Jahrhundert seien uns sehr fern. Aber sie sprach von einer "strukturellen Analogie". Ohne eine solche Analogie wäre nichts zu lernen.

Auf das Reformationsjubiläum 2017 zurückblickend konstatierte die Historikerin, deren Arbeiten zur frühen Neuzeit höchstes Ansehen genießen, eine merkwürdige Idealisierung Luthers. Er sei noch einmal als der Mann der Freiheit dargestellt worden. Dass mit ihm eine "vielstimmige Unzufriedenheit", wie sie sich in den Reformschriften dieser Jahre ausgedrückt hatte, zu einer scharfen Spaltung wurde, sei dagegen untergegangen.

Die Konfessionalisierung bewirkt nicht nur die Verfestigung der Bekenntnisse, sie betrifft das ganze politische und gesellschaftliche Leben und greift nach dem Seelenleben der einzelnen. In der Sorge um deren Heil, aber genauso im Willen zu geistlicher Geschlossenheit steigt der Druck auf die Gläubigen. "Hetze und Übersensibilisierung", beides fördert die Polarisierung. Die Staaten der frühen Neuzeit sind von einem starken Willen zu Zentralisierung der Herrschaft und Homogenisierung des Landes geprägt. So kommt es zu religiösem Zwang auch aus politischen Gründen. Was aber macht der, der das Bekenntnis der Herrschaft nicht teilt? Er kann sich eine neue Heimat suchen, aber das ist mit großen Opfern verbunden. Ansonsten bleiben ihm Anpassung, Heuchelei, Verstellung.

Das aber ist ein dezidiert unchristliches Verhalten. Die antik-heidnischen Autoren hatten der Lüge kein tieferes Interesse entgegengebracht. Der erste Autor, der die Lüge mit bohrender Energie behandelt, ist Augustinus. Sein Verbot der Lüge, das den Wahrheitsverheißungen des Neuen Testaments entspricht, prägt das mittelalterliche Denken. Für Schriftsteller wie Machiavelli oder Baltasar Gracián in seinem "Hand-Orakel" ist es schon nicht mehr verbindlich. Machiavelli empfiehlt, ein "Meister in Heuchelei und Verstellung" zu werden; man müsse es nur verstehen, seiner "Fuchsnatur ein gutes Ansehen zu geben". Der Pöbel lässt sich leicht täuschen, "und in der Welt gibt es nur Pöbel". Graciàn, der Jesuit, ist nicht ganz so barsch wie Machiavelli, aber auch er glaubt, dass sich nicht ohne Verstellung leben lässt und der "Pöbel" allgegenwärtig ist. Allerdings sind Italien und Spanien nicht die Hauptregionen der konfessionellen Auseinandersetzungen. Sind es die neuen Höfe mit ihren stärker durchgreifenden Herrschaftsansprüchen und Bürokratien, die ein neues Denken wecken? Beide Autoren wurden für ihren Freimut jedenfalls scharf getadelt. Und das Problem, das sich mit der Toleranz gegenüber der Verstellung ergibt, liegt bereits zu Tage: Wo mit der Täuschung jederzeit gerechnet wird, ist es nicht mehr möglich, dass etwas unbezweifelt wahr sein kann.

Für den Gläubigen, der gegen seine Herrschaft stand, waren Machiavelli und Gracián keine Ratgeber. Ein großer Teil der Bevölkerung war konfessionell lauer als die örtlichen Geistlichen. Gepredigt wurde strenge Konfessionalität, geglaubt wurde Vieles. Für die aber, die ihren Glauben ernst nahmen stellte sich die Frage, wie auf den Bekenntniszwang zu antworten sei. Calvin war am strengsten: Da der Leib ein Tempel Gottes sei, dürfe der Gläubige auch nicht durch äußerliches Verhalten Zugeständnisse machen. Unter Lutheranern war man großzügiger, erst recht bei Katholiken, auch wenn, wie Stollberg-Rilinger betonte, die Antworten auf die Frage nach äußeren Kompromissen und innerer Wahrhaftigkeit nicht einfach entlang der Konfessionslinien beantwortet wurden.

Wo ein Bekenntnis in der Minderheit war, wuchs die Bereitschaft zu moralischer Großzügigkeit. Die Jesuiten, die schon in der Mission, vor allem in Ostasien, gelernt hatten, Kompromisse mit der dominanten Kultur zu machen, entwickelten das Instrument des geistlichen Vorbehalts, der reservatio mentalis, wonach man sich nach außen verstellen darf, sofern man nach innen, vor Gott, wahrhaftig bleibt. Wird aber die Aufrichtigkeit vor Gott von der vor den Menschen getrennt, ist die Vorstellung von Lüge und Wahrheit erledigt. Mit dem Willen zur homogenen Bevölkerung wächst der Bekenntniszwang, die Heuchelei der Minderheit und das Misstrauen der Mehrheit. Der Gesinnungsdruck zerstört die Gesellschaft.

© SZ vom 27.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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