Zum Tod von Lars Norén:Unerbittlicher Realitätsforscher

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Lars Norén (Foto: AFP)

Der schwedische Dramatiker Lars Norén ist gestorben. In seinen düsteren Stücken beschrieb er die Verlierer am Rand der Gesellschaft.

Von Thomas Steinfeld

Vor zwei Monaten erst, Mitte November, veröffentlichte der schwedische Dramatiker, Lyriker und Regisseur Lars Norén den vierten Band seiner Tagebücher. Wieder lagen fast tausend Seiten Entblößung vor den vielleicht tausend oder zweitausend Lesern, die dieser Autor im eigenen Land noch hatte, wieder war die Schrift sehr klein, und wieder waren die Ansprüche sehr hoch: Denn entblößen wollte sich nicht nur Lars Norén, mit seinen Leseinteressen, seinen Einkaufsgewohnheiten, seinen Gebrechen und seinen Ansichten über den Rest der Welt. Entblößt werden sollte vielmehr auch das Milieu, in dem er lebte und arbeitete.

Gewiss, er schätzte, ja liebte einige Menschen, seine Töchter, vor allem die jüngste, seinen Dramaturgen am königlichen Theater in Stockholm, eine Schauspielerin an der Comédie Française. Über die meisten anderen Menschen, bekannte und unbekannte, hatte Lars Norén vor allem Schlechtes und dabei nicht zuletzt Drastisches zu sagen. Vor der Schwedischen Akademie und ihrer "schmutzigen Halbwelt" ekelte es ihn. Kritiker, mit vollem Namen genannt, erschienen ihm als "widerwärtige Raubtiere" oder "Schakale". Der Feuilletonchef der größten Tageszeitung des Landes soll sich durch "Feigheit, Mitläufertum, Angst", durch lauter "Lügen" und einen "schamlosen Mangel an Bildung" auszeichnen. Wahrgenommen wurde Lars Norén trotzdem, vor allem in der Kritik.

Lars Norén, geboren 1944 in Stockholm, dürfte in den Achtziger- und Neunzigerjahren einer der meistgespielten zeitgenössischen Dramatiker der Welt gewesen sein. Thomas Ostermeier und die Berliner Schaubühne reisten mit ihrer Inszenierung der "Dämonen" (2010), eines Stücks über zwei Ehen in allseitiger Zerrüttung, um den halben Globus. Geschaffen wurde dieser Erfolg mit Werken, in denen Menschen vor allem eines taten: Sie regredierten, sie schrumpften bis in ihr Innerstes, das zugleich auch ihr Niederstes war.

So war es in "Nacht, Mutter des Tages", dem Theaterstück, mit dem Lars Norén im Jahr 1982 seinen Durchbruch erlebte. Es schildert, mit deutlich autobiografischen Zügen, einen Tag im Leben einer sich selbst zerlegenden Familie in der südschwedischen Provinz, irgendwann Mitte der Fünfziger: Der Vater ist ein Trinker, die kränkliche Mutter raucht Kette, der Sohn versucht, sich in den Jazz zu retten. In "Bobby Fischer lebt in Pasadena" aus dem Jahr 1988 geht es wieder um den Zusammenbruch einer Familie. Seinen Titel trägt das Stück nicht nur, weil das Schachspiel ihm die Dramaturgie vorgibt, sondern auch, weil Bobby Fischer, einst Weltmeister, als Borderline-Persönlichkeit bekannt ist.

Auf solchen Wegen fuhr Lars Norén fort, in Werken wie "Eine Art Hades" (1996), in denen Menschen unterschiedlichster Herkunft in einer psychiatrischen Klinik zusammengeführt werden, oder zuletzt in "Stille Leben" (2017), einem Stück ohne Dialoge, in dem es schlicht um die physische Existenz des Menschen geht, um den Körper, in seiner elementaren Form. Dabei besaß Lars Norén ein scharfes Ohr für die Sprache, was nicht zuletzt ihrem Gebrauch für gemeine und niederträchtige Zwecke gilt. Dem Dramatiker merkte man den Lyriker an, als der er in den frühen Sechzigern begonnen hatte, neben seiner Lektüre etwa von Henri Michaux und Raymond Roussel.

Er holte zwei Rechtsradikale und einen Bankräuber aus dem Gefängnis auf die Bühne - das ging nicht gut

Von vornherein vorhanden war auch das Interesse an Gestalten, die man auf Schwedisch dem "Außerhalbsein" ("utanförskap") zuordnet: den Ausgestoßenen und Obdachlosen, den Prostituierten und Verbrechern, den Haltlosen und Suchenden. So spielt sein Sozialdrama "Personenkreis 3.1.", uraufgeführt in Stockholm 1998, an einem "verlassenen unterirdischen U-Bahn-Bahnsteig" unter Alkoholikern, Junkies und Dealern. Thomas Ostermeier eröffnete damit im Jahr 2000 seine Intendanz an der Berliner Schaubühne, was dem Stück hohe Aufmerksamkeit einbrachte.

So weit ging Noréns Interesse an den Menschen am Rand einer kaputten Gesellschaft, dass er in seinem Drama "7:3", uraufgeführt 1999, zwei echte Rechtsradikale und einen Bankräuber aus dem Gefängnis holte und auf die Bühne stellte. Sie benutzten den Hafturlaub zu einer Reihe von Verbrechen, die in einer wilden Flucht und dem Mord an zwei Polizeibeamten mündeten. Norén hatte zunächst die Hoffnung gehabt, das Theaterspielen könne eine Läuterung der Kriminellen bewirken. Das Gegenteil trat ein, wohl auch, weil das Publikum wenig Verständnis für faschistische Parolen zeigte. Die Aufführung markierte einen Wendepunkt in Lars Noréns künstlerischer Laufbahn: Galt er vorher nicht nur im eigenen Land als unmittelbarer Nachfolger August Strindbergs, war danach eine Distanz nicht nur des Publikums, sondern auch der Kritik nicht zu übersehen.

Lars Norén war ein ungemein produktiver Autor. Er schuf nicht nur mehr als hundert Theaterstücke (viele von ihnen erlebten auch eine Aufführung im schwedischen Fernsehen), mehr als ein Dutzend Lyrikbände und etliches in Prosa, nicht zuletzt die vier Bände der Tagebücher. Er agierte darüber hinaus beinahe unermüdlich als Regisseur, nicht nur in Schweden, sondern auch an der Comédie Française und am "Norske Teater" in Oslo. Und nicht nur im Ausland, sondern auch in Schweden galten seine Arbeiten als exemplarische Werke einer spezifisch skandinavischen Schwermut, eines Tiefsinns, der sich am äußersten Rand der menschlichen Existenz zu Hause wähnt, einer Sehnsucht nach einem Jenseits, das unfassbar bleibt und doch alle Möglichkeiten des Glücks in sich zu bergen scheint.

Tatsächlich aber liegen Welten schon zwischen Lars Norén und Ingmar Bergman. Denn dieser vermochte noch, zum Beispiel in seinem berühmten Fernsehfilm "Szenen einer Ehe" aus dem Jahr 1973, das Elend der Zweisamkeit noch in echten Dialogen zu fassen. Bei Lars Norén sind solche Gespräche selten: Seine Figuren deklamieren, wenn sie in den Abgrund ziehen. Der Autor sucht sich unterdessen, an seinen Hausheiligen festzuhalten: an der französischen Mystikerin Simone Weil, an den Gedichten Paul Celans und vor allem an Martin Heidegger, den er für einen Philosophen des absolut Authentischen hielt.

Geht eine Familienfeier gründlich schief, spricht man in Schweden von einem "norénare"

Es mag sein, dass die Zeiten nicht mehr zu Gesprächen taugen, und es mag sein, dass Lars Norén ein aufrechter Chronist seiner Gegenwart war, als er seine Gestalten erst schimpfen, dann hassen und schließlich verstummen ließ. "Ich gehöre nicht, schon seit Langem nicht mehr, zu der Kulturwelt, in der ich gelegentlich meinen Namen nennen höre, unnötigerweise", schrieb er in seinen jüngsten Tagebüchern. Der Satz ist kokett, um es vorsichtig zu sagen, denn tatsächlich besaß Lars Norén bis zu seinen letzten Tagen eine zentrale Position im Theater- und Literaturleben seines Heimatlandes.

Er selbst ist, mit seinem Hass auf den "Kulturpöbel", mit seinem scharfen Ohr für alle Niedertracht und auch mit seiner Taubheit sich selbst gegenüber, längst in die schwedische Alltagskultur eingezogen. Geht eine Familienfeier gründlich schief, endet sie in Streit und Besäufnis, spricht man von einem "norénare". Auch damit wird Lars Norén, über seine Theaterstücke hinaus, lebendig bleiben. Er starb, 76 Jahre alt, am Dienstag an einer Infektion mit dem Coronavirus.

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