Kurzprosa:Wenn der Faden reißt

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Nach ihrem "Lexikon der Angst" (2013) hat die Schriftstellerin Annette Pehnt jetzt ein "Lexikon der Liebe" verfasst. Es ist leider nicht ganz vollständig. Denn die Schattenseiten der Liebe, ihre Risiken und Abstürze kommen hier zu kurz.

Von Franziska Wolffheim

In der Notaufnahme wartet ein alter Mann auf seine Frau. Sie ist gestürzt, nach vorn, mit dem Gesicht nach unten. Sonst ist sie immer nach hinten auf den Kopf gefallen, und der Mann denkt, es müsse an diesen Stürzen liegen, dass sie so apathisch geworden ist. Deshalb hatte er sie gebeten, beim nächsten Mal nach vorn zu fallen. Dieser Sturz scheint schlimmer zu sein als die anderen zuvor. Aber die Liebe zwischen ihm und seiner Frau, die er zärtlich "Meine Feder" nennt, wird auch dieses Unglück überstehen.

Bedrückend und tröstlich zugleich ist diese Miniatur von Annette Pehnt, eine von rund fünfzig kurzen Geschichten aus ihrem neuen Buch "Lexikon der Liebe". 2013 hatte Pehnt bereits das "Lexikon der Angst" veröffentlicht. Jetzt also die Liebe von A wie Ahnung bis Z wie Zittern in ihren komischen, traurigen, dramatischen und banalen Verwicklungen. Es geht um Melancholie, Abschied, Krankheit, Entfremdung, Alter und Älterwerden, aber auch um die kleinen und großen Glücksmomente. Die Geschichten sind meist nicht mehr als drei oder vier Seiten lang, die Titel bewusst unspektakulär, fast beliebig gehalten ("Unter", "Viele", "Namen"). Doch ganz so alltäglich, wie die Titel suggerieren, sind diese Kurzerzählungen nicht, Pehnt sucht das Besondere im Alltag, oft findet sie es, manchmal auch nicht.

Liebende, erfahren wir in einer Geschichte, erzählen gern von den Anfängen, wie sie sich kennen lernten, was sie erlebten, als alles noch offen war. Annette Pehnt berichtet selten vom Zauber des Anfangs und häufiger davon, wie die Liebe auf die Probe gestellt wird. Wenn das Schicksal an einer Ecke lauert und dabei zuschaut, wie die Protagonisten mit ihrem Unglück zurechtkommen. Wenn sich in eine enge Beziehung plötzlich das Gefühl von Entfremdung schleicht, weil die Eltern hilflos zusehen müssen, wie ihnen ihre erwachsen gewordenen Kinder entgleiten.

Zum Ton der Menschlichkeit und Warmherzigkeit braucht es einen starken Kontrapunkt

In einer anderen Geschichte geht es nicht um Nähe, die schwindet, sondern um das aktive Zerstören von Nähe - durch lustvolle Untreue. Eine Tänzerin ist mit ihrem Ensemble in der ganzen Welt unterwegs, und auch ihr Partner reist beruflich viel umher. Zwischen Flughäfen, Bahnhöfen und Hotelzimmern chatten sie pausenlos, aber eines Tages reißt der digitale Faden plötzlich ab. Sie liegt in Florenz mit einem Anderen im Bett, und er muss es aushalten, dass ihr Handy stumm bleibt. "Parkplätze" heißt die kurze Geschichte über Liebe in den Zeiten des Webs, sie hat eine schöne Leichtigkeit und Dramaturgie. Und dazu noch eine hübsche Schlusspointe, wie manche dieser kurzen Texte.

Allerdings sind nicht alle Miniaturen in diesem Liebes-Lexikon geglückt. Wenn Pehnt von einer Frau erzählt, die einen Guru anhimmelt, wirkt das allzu stromlinienförmig, es fehlen die Brechungen. Überhaupt vermisst man in manchen Geschichten das Abgründige, Sperrige, den Widerhaken. "Man muss sich schon etwas einfallen lassen, aber zu schräg darf es auch nicht sein", heißt es in der Geschichte "Phrase", in der ein Mann zum ersten Mal in seinem Leben eine Kontaktanzeige aufgibt. Doch, möchte man einwenden, doch, es soll schräg sein, unbedingt! So wie in der Geschichte "Gast", in der eine auffällig schmutzige Frau sich bei einem Wissenschaftler zu Hause einnistet. Woher sie kommt, was sie will, bleibt offen. Hier machen die Fragezeichen den Reiz der Geschichte aus.

Man hätte der Autorin für ihre Erzählungen, die stilistisch fast alle im gleichen Duktus gehalten sind, etwas mehr Mut gewünscht, sich auf die schiefe Bahn zu begeben. Pehnt entwirft viele anrührende Szenen und Lebensläufe, erzählt von Krankheit und Leid in einem Ton, der von Menschlichkeit und Warmherzigkeit geprägt ist. Aber da braucht es eben auch einen klaren Kontrapunkt. Ein Lexikon der Liebe ist nun mal keine Fibel allein des Guten.

Annette Pehnt: Lexikon der Liebe. Piper Verlag, München 2017. 192 S., 20 Euro. E-Book 18,99 Euro.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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