Wenn einer der genialsten Choräle von Johann Sebastian Bach, "Wachet auf ruft uns die Stimme", im Wagner-Sound als "Ouvertüre" erklingt, dann mischen sich Andacht, Sentiment und Pathos. Und es treffen sich zwei enthusiastische Bach-Jünger: Felix Mendelssohn und Masaaki Suzuki. Mendelssohn hat seinem Oratorium "Paulus" nicht nur den Bach-Choral als orchestrale Eröffnungsdevise vorangestellt, sondern sich auch sonst von Bachs Oratorienkünsten tief inspirieren lassen.
Der evangelische Japaner Suzuki aber ist inzwischen weltbekannt als Bach-Interpret, von der Gesamtaufnahme sämtlicher Kantaten bis zu den internationalen Konzertpodien. Wenn er jetzt im Herkulessaal mit dem groß und glänzend besetzten Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zur Saisoneröffnung die dramatische Wandlung vom Saulus zum Paulus musizierte, dann war er also in vertrautem Stilambiente. Aber nicht ganz. Denn die historistische Brechung des Sujets macht es zwischen Epik und Dramatik nicht immer leicht. Vom empfindsamen "Grave" bis zu hitzigen Chorfugen und turbulenten Turbachören, vom monumentalen Tutti bis zu balsamischen Bläseridyllen waren es oft nur kleine Distanzen, die Suzuki mit leidenschaftlicher Dirigierverve dramaturgisch moderierte. Und die nazarenische Romantik im Choral "O Jesu Christe, wahres Licht" war weit weg von Bach.
Mark Padmore als Tenor war hingegen mit seinem eindringlichen Testo-Gestus ganz nahe am Vorbild, zauberisch Stefanie Irányi (Mezzosopran), und Carolyn Sampson (Sopran) imponierte mit dem Changieren zwischen klarer Kantatendiktion und etwas Soubrette. Albert Dohmen, der für den erkrankten Bass Franz-Josef Selig eingesprungen war, erschuf, stimmlich zwar nicht immer ausgeglichen, einen imponierend-menschlichen Paulus zwischen Zorn, Bekehrung und Hingabe. Mit dem BR-Chor aber erstand die versunkene Oratorientradition aus den alten Singakademien in neuem Glanz.