Kurzkritik:Welch eine Fülle

BR-Symphoniker mit Varèses "Amériques"

Von Klaus Kalchschmid, München

"Amériques" von Edgard Varèse: Was für ein gewaltiges Werk, das wie in einem Brennspiegel ebenso die Ballette Igor Strawinskys fokussiert wie ein halbes Jahrhundert Symphonische Dichtung und den Moloch Großstadt am Bespiel New York; das mit einer Fülle an Schlagwerk aufwartet, aber auch verhaltene Bläser in der Ferne kennt. Daneben gibt es immer wieder Streicher-Ballungen, Blechbläser-Attacken oder aufheulende Sirenen; von den wie ekstatische Tänze sich ausbreitenden Steigerungswellen der letzten Minuten einmal ganz abgesehen.

Die BR-Symphoniker beendeten unter Mariss Jansons ihr Konzert in der Philharmonie fulminant mit der scharfkantigen, überbordenden, extrem divergenten Erstfassung des Werks aus dem Jahr 1922. 142 Musiker, darunter ein Dutzend Schlagzeuger, füllten das Podium der Philharmonie bis auf den letzten Platz, und alle paar Takte wechselten Besetzung und klangliche Ausformung, Struktur und Ausdruck. Dagegen wirkte Tschaikowskys düster glühende Ouvertüre "Romeo und Julia", die das Konzert eröffnete, fast konventionell, obwohl Jansons mit seinem Orchester von der brütend langsamen Einleitung, dem erregten Haupt- und dem weit sich aussingenden Liebesthema bis hin zum niederschmetternden Ende alle Register zog.

Nach der "Karelia"-Suite von Jean Sibelius mit dem Zitat der finnischen Nationalhymne im letzten Teil des Abends war das "Überraschungsstück" durchaus vorhersehbar und nur folgerichtig: "Finlandia", die strahlende inoffizielle Hymne der Finnen. Alles vermeintlich Kriegerische aus der Geschichte Kareliens, das in den Ecksätzen der Suite verhandelt wird, hatte geradezu heiteren Marsch-Charakter und bot in seiner Helligkeit den perfekten Kontrast zu Tschaikowskys Deutung von Shakespeares Tragödie am Beginn und den brutalen, oftmals dissonanten Klängen Varèses als Aufbruch in die Moderne am Ende.

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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