Kurzkritik:Weißes Rauschen

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Electronica-Pionier Nicolas Jaar in der Muffathalle

Von Stefan Sommer, München

In totaler Finsternis huscht unbemerkt ein Schatten von links auf die Bühne. Der geisterhafte Umriss eines Mannes schleicht durch die futuristischen Gerätschaften, die wie in der Kommandozentrale eines Raumschiffs im Kreis um ihn stehen. Er klappt seinen Laptop auf und das Licht trifft erstmals sein Gesicht. Der amerikanisch-chilenische Electronica-Visionär Nicolas Jaar steht im Schein des Monitors wie eine postmoderne Heiligenfigur. Per Knopfdruck startet er die Apparatur und die ersten extraterrestrischen Grrr- und Zisch-Klänge aus dem All schwingen durch den Raum der Muffathalle. Als Medium empfängt Jaar die fernen Signale und baut mit Sequencer-Schichten, gecutteten, gepitchten Vocal-Samples und Kraut-Frickeleien eine rhythmuslose Noise-Flut aus ihnen. Als würde man in einen Tsunami weißen Rauschens eintauchen.

Es vergehen 27 Minuten, bis die erste Bass-Drum, die ersten Rhythmus-Patterns die Krach-Ouverture verdrängen. Für jeden anderen DJ der Welt hätten 27 Minuten ohne Vierviertel-Kick wohl das sichere Karriereende bedeutet. Ein Vergleich: 27 Minuten Electronica-Set ohne tanzbares Element sind wie ein AC/DC-Song ohne Gitarrensoli oder eine ganze Deutschrap-Platte ohne die Worte "Mutter", "Swag", "Hustensaft" oder "Ghetto".

Bei Jaar hat die Reduktion, der bewusste Verzicht auf die physische Seite seiner Kunst einen klaren Zweck: Es schärft die Konturen und gibt den Teilen wieder ihren Sinn, ihre Funktion zurück. Wenn dann die erste Bass-Drum einsetzt und aus der Stockhausen-Improvisation plötzlich Berghain-Techno entsteht, zeigt die treibende Kraft, das Brachiale des Rhythmus erst im Verhältnis zur Rhythmuslosigkeit ihre Bedeutung. Das alles verbindet Jaar brillant mit den sirrenden und keifenden Stör-sounds seiner beiden Alben. Die Wackelkontakt-Melodien strömen aus dem Laptop auf die Bühne wie kurze Bilderfetzen auf die Linse eines kaputten Röhrenfernsehers, um gleich wieder im weißen Rauschen zu vergehen.

© SZ vom 24.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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