Kurzkritik:Virtuos am Limit

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Michael Wollny improvisiert die "Nachtfahrten"

Von Claus Lochbihler, München

"Wir sprechen uns dann irgendwann vielleicht noch mal", sagt Michael Wollny, als er nach zwei Solostücken seine erste Ansage macht. Der 37-Jährige - gebeugter Pianistengang, schwarzer Leinenanzug, verwuschelte Haarmähne, die wie ein Vorhang vor's blasse Gesicht fällt - sagt das augenzwinkernd düster. Gerade so, als ob es möglicherweise die letzte Ansage sein könnte, bevor einen Wollnys Klavier-Nacht ganz und gar vereinnahmt, bis man sich vollständig aufgesogen fühlt. Denn so virtuos wie Wollny, Schlagzeuger Eric Schaefer und Christian Weber am Kontrabass ihre "Nachtfahrten" im vollen Prinzregententheater improvisieren, wünscht man sich in den intensivsten Momenten tatsächlich, dass dieser Konzert-Rausch nie enden möge. Wollny selbst vergisst weitere Ansagen. Erst die vom Publikum nicht erklatschten, sondern mit den Füßen herbei getrommelten Zugaben ("Phlegma Phighter", "Little Persons") moderiert der Pianist wieder an.

Wollnys "Nachtfahrten": Das ist einerseits eine Abfolge improvisierter Nocturnes, die um Motive der Nacht zwischen Traum und Grauen kreisen. Mal tasten sich die von der Romantik, Filmen und Filmmusik (Twin Peaks, Psycho) inspirierten Interpretationen und Kompositionen ganz langsam vor, wie in einem dunklen Raum, mal schweben sie halluzinatorisch dicht über Schaefers Schlagzeug- und Gong-Puls und Webers gezupftem und gestrichenem Bass. "Nachtfahrten" ist aber auch eine Metapher für die besondere Qualität des Improvisierens, das diese drei Musiker - zum Teil über Jahrzehnte - entwickelt haben. Traumwandlerisch sicher, mit geschärften Sinnen und fast immer am Limit improvisiert dieses Trio.

Nirgends wird das an diesem Abend so deutlich wie über "Gorilla Biscuits", Schaefers Hommage an eine New Yorker Punk-Gruppe. In irrwitzigen Wechseln von Tempi und Rhythmen, bei der sich die drei Musiker gegenseitig pushen, fordern und jagen, prallen die rohe Kraft des Hardcore mit dem dynamischen Fluss des Improvisierten aufeinander. Ob das noch Jazz ist? Möglicherweise nicht. Aber ganz sicher großartige, aufwühlende Musik. Musik, die einen schluckt.

© SZ vom 02.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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