Kurzkritik:Nähe und Distanz

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Die elegischen Serenaden des Elektrokünstlers Sohn

Von Stefan Sommer, München

Als würden Roboter weinen: Hochgezogene, tiefgepumpte, abgehackte, würgende, dröhnende Variationen einer verzerrten, männlichen Stimme bauschen sich zu einem schluchzenden Klagechor. Auf der Bühne des Technikums singt doch nur ein Mann: ein Musiker namens Sohn. In schwarzen, weiten Gewändern und mit einem dunklen Pilgerhut bekleidet, sitzt der hagere Brite zwischen seinen Synthesizern, Sequenzern, Vocodern und anderen obskuren Geräten im Blitzlicht der Stroboskope. Für das Intro von "Tempest", dem ersten Track des Abends, singt er mit sanfter Falsettstimme in sein Mikrofon, die Töne fließen durch die Maschinen, und aus den Boxen schleichen wie schüchterne Geister Hunderte Doppelgänger seiner Stimme.

Der organische und dennoch technoide Dance-Sound aus Tracks wie "Tempest", "Signal" oder "The Wheel", die zerschnittenen und in mathematischer Klarheit um seine Jünglingsstimme herum gespiegelten Vocal-Sample-Figuren avancierten in den vergangenen beiden Jahren zu einer oft imitierten Blaupause elektronischer Popmusik. Zusammen mit Schmerzensmännern wie James Blake entwickelte der Süd-Londoner, der eine Weile in Wien lebte, auf seinen ersten beiden Alben einen futuristischen, fragilen Entwurf von modernem R'n'B. Das blieb selbstverständlich nicht lange unter dem Radar: Popstars wie Lana Del Rey, Honne, Banks oder Disclosure holten Christopher Michael Taylor, wie Sohn bürgerlich heißt, zu sich ins Studio und ließen sich von ihm remixen oder produzieren.

Tropfende Sirenen-Arpeggios und schwere Synthie-Flächen wie in "Conrad" oder "Rennen" von der neuen Platte, die mittlerweile in jedem Elektro-Pop-Hit-Baukasten findiger Produzenten von Stockholm bis Los Angeles ihren Platz gefunden haben, funktionieren auch live bestechend. Sohn und seine Band sind ein eingespieltes Team und sie arbeiten sich am Dienstagabend durch ein präzises, unterhaltsames Set. So elegant und einfallsreich kann Popmusik klingen: Der vielschichtige Elektrokünstler spielt im Technikum elegische, dunkle Serenaden, die zwischen umarmender Nähe und betäubender Distanz wogen.

© SZ vom 16.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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