Kunst:Was immerfort vergeht

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Impressionismus für Frauen? Die bedeutende Malerin Berthe Morisot ist längst von Geschlechterklischees befreit. Jetzt ist im Musée d'Orsay in Paris eine große Werkschau zu sehen.

Von Joseph Hanimann

Impressionismus für Frauen? Dieser Ruf hing der Malerin Berthe Morisot lange nach. Als hätten Malstile ein Geschlecht. Wohl gibt es bei dieser Künstlerin vorherrschende Motive: Frauen bei der Toilette oder im Abendkleid, spielende Kinder im Park, musizierende Bürgerstöchter, Hausmädchen bei der Arbeit, Träumerinnen am Fenster, hingegen kaum Männer und nur wenige Landschaften oder Stillleben. Das macht aus dem Werk von Berthe Morisot aber nicht einfach eine weibliche Nebenerscheinung des Impressionismus. Das Malen betrieb diese Frau aus dem begüterten Pariser Bürgermilieu ihr Leben lang entschieden als Leidenschaft und als Beruf. Seit der ersten Pariser Impressionistenausstellung 1874 im Atelier des Fotografen Nadar war sie regelmäßig mit dabei. Ihre Kollegen Manet, Degas, Renoir, Monet nahmen sie als ebenbürtige Künstlerin wahr. Und vom Klischee einer weiblichen Variante des Impressionismus hat man sich in den letzten Jahren mehr und mehr verabschiedet.

Zu beweisen gab es für diese Ausstellung, die nach Stationen in Québec, in Philadelphia und in Dallas nun im Musée d'Orsay in Paris angekommen ist, also nicht mehr viel. Es geht ihr eher um eine Verschiebung des Blickwinkels. Ausgelotet wird in einem Spektrum von acht Sälen die Frage, warum bei dieser Malerin die Gegenwart der menschlichen, zumeist weiblichen Figur eine so große Rolle spielt. In über zwei Dritteln der insgesamt gut vierhundert Bilder von Morisot ist das der Fall.

Morisot malte diese „Schmetterlingsjagd“ (hier ein Ausschnitt) - und war auch sonst der Flüchtigkeit auf der Spur. (Foto: Patrice Schmidt)

"Die Wiege" heißt etwa ein Werk aus dem Jahr 1872. Eine Mutter blickt da verträumt auf ihr hinter einem Tüllvorhang schlafendes Kind. Hinter ihr bauscht sich ein weiterer Vorhang - fast der ganze Bildraum wird von Vorhängen eingenommen. Gleich neben diesem Bild hängt am Ausstellungseingang das Porträt von Berthe Morisot an der Staffelei, das ihre Schwester Edma 1865 von ihr gemalt hat. Konzentriert schaut die Dreiundzwanzigjährige dort mit Palette und Pinsel in der Hand vor einem braun-dunklen Hintergrund auf ihr Werk. Verliert euch nicht in die Träumereien der jungen Mutter an der Wiege und das in allen Weißtönen oszillierende Tüll-Labyrinth, folgt lieber dem konzentrierten Blick der Künstlerin auf ihr Werk! - so scheint die Ausstellung uns zu ermahnen.

Sie war Manets Schwägerin, blieb aber als Künstlerin eigenständig

Die Grundaussage der Schau ist damit klar. Das scheinbar heitere impressionistische Schillern von Wasser, Feldern und Blumen gibt in den schweigenden, mit sich selbst beschäftigten Figuren mittendrin eine dunklere Seite zu erkennen. "Das Glück, das Berthe Morisots Bilder ausstrahlen, schöpfte sie nicht aus dem eigenen Leben", schrieb Jean-Marie Rouart von der Académie Française anlässlich einer früheren Ausstellung. Das in energischen Strichen aufgetragene üppige Grün wirkt mitunter sogar beinah bedrohlich.

Die Genremalerei stiller Häuslichkeit hat gerade bei dieser Künstlerin ihre gediegene Raumübersicht verloren. Die - eher seltenen - Innenräume verweigern mit ihren wuchernden Farbvariationen jede perspektivische Tiefe, und die von Morisot bevorzugten Fensterdurchblicke, Veranden und Wintergärten zeigen eine Raumstaffelung von oft betörender Komplexität. Den Drang hinaus in Natur und Landschaft, so nah heran an die Alltagsdinge, bis sie fremd werden, verspürte die 1841 geborene Berthe Morisot schon in jungen Jahren. Noch keine zwanzig, zog es sie mit ihrer Schwester Edma, gegen den Widerstand ihres Lehrers Joseph-Benoît Guichard, aus dem Atelier ins Freie, wo beide sich unter Anleitung des neuen Lehrers Camille Corot im Malen nach der Natur übten.

Dieses Selbstporträt von Berthe Morisot (hier ein Ausschnitt) entstand 1885. (Foto: www.bridgemanart.com)

Die Landschaft ist in Morisots Bildern erst Landschaft, wenn sie durch die menschliche Anwesenheit einen Schwerpunkt bekommt, bei der an einer Mauer lehnenden Frau in der "Hafenansicht von Lorient" wie bei dem in "Dans les blés" aus dem Kornfeld tretenden Mann oder den in "Vue d'Angleterre" in einer südenglischen Landschaft sitzenden Kindern. Die nervös hingeworfene oder schwammig aufgelöste Pinselführung war hier nicht einfach ein skizzenhaft schnelles Erfassenwollen der jeweiligen Szene, sondern sie erweist sich als Teil einer spezifischen Technik des Unfertigen, die auch in Morisots zahlreichen Frauenbildern beim Aufstehen, bei der Toilette oder beim Posieren zu finden ist.

Vorzüglich sieht man das in den beiden Ausstellungssälen, die der Verwandlung der Frau vor dem Toilettenspiegel zur Dame in voller Staffage in der Öffentlichkeit gewidmet sind. Die uns meistens den Rücken zukehrenden Frauen beim Aufstehen, Schminken und Kämmen sind Teil eines Farbtaumels, der alles im Raum zu erfassen scheint bis hin zum Bett, Schrank, Diwan oder Fenstervorhang. Vorgeführt wird da, etwa im zartblauen Knistern der Erwartung von "Femme à sa toilette" aus den Jahren 1875 bis 1880, weniger eine weibliche Psychologie oder ein gesellschaftliches Profil als eine Werkstatt der Intimität. Vom abgestreiften Oberteil oder verrutschten Nachthemd über der nackten Haut geht in diesen Bildern ein Reiz vor-erotischer Geschäftigkeit aus. Stehen die Frauen dann aber mit ihrem vollendeten Putz im Theaterfoyer oder im Salon, wirkt ihr Blick seltsam nach innen gekehrt, als wären sie nur noch Statistinnen des mondänen Ereignisses. Im Bild "Winter" (1880) wird die Dame im molligen Rot-Braun mit Handwärmer und Pelzmütze sogar beinah zur Allegorie.

So malte Morisot ihren Mann Eugène Manet auf der Isle of Wight (Ausschnitt) - er war der Bruder des berühmteren Malers Édouard Manet. (Foto: www.bridgemanart.com)

Ob drinnen oder draußen im Freien hat Berthe Morisot immer mit Modellen gearbeitet. Das liebste von allen war ihr ihre Tochter Julie. 1874 hatte die Malerin Eugène Manet, den Bruder Édouards, geheiratet. Die beiden Familien unterhielten enge Kontakte, und Édouard Manet hat Berthe Morisot mehrmals porträtiert, als Sitzende mit Fächer etwa in seinem berühmten Bild "Der Balkon" von 1868. Im Unterschied zu ihrer Schwester Edma brachte die Heirat für Berthe aber nicht das Ende des Malens. Mit unverminderter Hingabe trieb sie dieses weiter, neben ihrem - nicht ganz so hingebungsvoll - ebenfalls malenden Gatten Eugène. Auch signierte sie weiterhin mit ihrem Mädchennamen Morisot.

Dieses bürgerliche Leben ist nur scheinbar von erfüllter Betulichkeit. Es ist ruhelos

Julie als kleines Mädchen beim Sandkuchenmachen neben der Wasserkanne im Garten, Julie auf den Knien ihres Vaters im Park, später beim Geigenspiel oder zusammen mit dem Windhund "Laertes" im Salon - immer neu suchte die Malerin die flüchtigen Momente im Familien- und Freundeskreis einzufangen. Diese Szenen eines materiell sorglosen Bürgerlebens zwischen Pariser Stadthaus und Sommerresidenz auf dem Land zeugen jedoch nur scheinbar von erfüllter Betulichkeit. Etwas Ruheloses steckte bis zuletzt im Charakter Berthe Morisots, die mit derselben Bange bei jedem Bild wieder am Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffens zu stehen schien, als gäbe es kein Wachsen und Reifen des Werks. Anerkennung erwarte sie schon lange keine mehr, notierte Morisot vor ihrem frühen Tod 1895 ins Skizzenbuch, sie wolle nur etwas von dem festhalten, was immerfort vergeht - "oh, etwas ganz Belangloses, eine Haltung Julies, ein Lächeln, eine Blume, eine Frucht, ein Baumzweig", und selbst das komme ihr noch als ein geradezu vermessener Anspruch vor.

Umso erstaunlicher erscheint es, dass die Ausstellung in Paris mit ihrem Augenmerk auf das im Werk angelegte Prinzip des nie ganz Vollendeten auf Skizzenblätter, Zeichnungen und Vorstudien praktisch verzichtet. Bild um Bild folgen in den klassisch gehängten Sälen die Exponate aufeinander wie aus dem Schaffenszyklus gestanzte Sortimentsstücke. Die Werkauswahl ist überzeugend; sie zeigt aber keine Prozesse, als stünden hinter den Themenvariationen nicht zumindest Anläufe zur Vollkommenheit. Momente des Zögerns, wie Morisot sie etwa in den verschiedenen Versionen von "Der Kirschbaum" (1891) durch die wechselnden Positionen der Frau beim Pflücken auf der Leiter offenbarte, kommen in dieser Schau nicht vor. Die mit nervösen Pinselstrichen bedeckten Bildflächen, die an den Rändern sich verlierende Farbgebung und die stellenweise schlichtweg leer gelassene Leinwand erscheinen wie in der Bewegung erstarrte Gesten der Endgültigkeit.

Verloren geht dadurch das Flimmern der Werke untereinander und die Konfrontation ihrer Wirkungskraft. Dabei wäre die künstlerische Position Berthe Morisots zwischen Impressionismus und Symbolismus heute sicher genug, um einen solchen Vergleich zwischen Stärkerem und Schwächerem aushalten zu können. Diese neue Rezeptionsphase wird also einer künftigen Ausstellung vorbehalten sein.

Berthe Morisot (1841 - 1895). Musée d'Orsay, Paris, bis 22. September. Der französisch- und englischsprachige Katalog kostet 39,90 Euro. Info: www.musee-orsay.fr

© SZ vom 06.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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