Kunst:Sie heißt Madeleine, nicht Negerin

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Wie blicken wir auf Darstellungen von Menschen mit anderer Hautfarbe? Eine Ausstellung im Musée d'Orsay in Paris will den schwarzen Modellen in der Malerei ihre Identität zurückgeben.

Von Joseph Hanimann

Die seit drei Jahrzehnten aufgekommene Begeisterung für Museen und Museumsbau allüberall reißt nicht mehr ab. Gebremst wird sie neuerdings aber von hartnäckigen Fragen, Zweifeln und Skrupeln. Sind wir mit einem "Unbehagen am Museum" konfrontiert, wie die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy meint? Innerhalb weniger Jahre hat sich unser Blick auf die Schätze der Museumssammlungen verändert. Statt auf die Werke allein richtet er sich vermehrt auf deren Herkunft, auf die Art, wie sie dahin kamen, wo sie nun sind, und auf die Frage, ob sie da auch mit Recht seien. Was erzählen uns etwa die Benin-Bronzen des British Museum oder der Stiftung Preußischer Kulturbesitz über ihre kulturgeschichtliche und ästhetische Bedeutung hinaus? Ein Riss ist durch die Aura der Kunstwerke gegangen. Bildmotive, Themen, Botschaften und manchmal sogar auch die Werktitel sind aus ihrem bisher selbstverständlichen Deutungsrahmen gekippt.

Das Terrrain der europäischen Museumslandschaft wird umgepflügt, und das schlägt sich auch in der Ausstellungspolitik nieder. Die jeweilige Sammlungsgeschichte wird heute oft mitthematisiert. Mit seiner Ausstellung über "Das schwarze Modell - Von Géricault bis Matisse" hat das Pariser Musée d'Orsay nun ebenfalls einen wichtigen Schritt in diese Richtung getan. Zum ersten Mal wird dort in so breitem Kontext die Frage gestellt, was wir genau sehen, wenn wir auf Darstellungen mit Personen anderer Hautfarbe blicken.

"Porträt einer Negerin" heißt eines der berühmtesten Bilder der französischen Malerin Marie-Guillemine Benoist, das seit 1818 im Louvre hängt. "Porträt einer Schwarzen" nannte man in jüngerer Zeit dann politisch korrekter das Bild. "Porträt von Madeleine" lautet der Titel jetzt - zumindest so lange, wie das Werk für die Dauer der Ausstellung im Musée d'Orsay hängt. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, den in den Werktiteln meistens namenlos angegebenen Vertretern einer Menschengruppe - "Neger", "Schwarzer", "Mulatte", "Eingeborener" - einen Namen, eine Herkunft, eine Identität zu geben. Langwierige Recherchen sind von den Kuratoren dafür angestellt worden. Madeleine sei der wirkliche Name der würdevoll posierenden Frau auf dem Louvre-Bild gewesen, erfahren wir zum Beispiel. Es habe sich um eine in die Freiheit entlassene Sklavin aus Guadeloupe gehandelt. Viel näher wird uns das Gemälde damit zwar nicht gebracht, doch wissen wir fortan nun immerhin das.

Was in Amerika vor längerem schon begann, hat mit Veranstaltungen wie "Black Chronicles" in der Londoner National Portrait Gallery oder "Black is beautiful" in der Nieuwe Kerk Amsterdam mittlerweile auch Europa erreicht. In Paris war das Musée du Quai-Branly für afrikanische und ozeanische Kunst bisher praktisch das einzige, das sich dieses Themas annahm. In der zusammen mit der Wallach Art Gallery der Columbia-Universität konzipierten Ausstellung des Musée d'Orsay ist die koloniale Problematik der Kunstsammlungen nun kulturgeschichtlich erweitert worden. Welche Wahrnehmung stand hinter dem Künstlerblick, der sich auf die in den Malateliers posierenden dunkelhäutigen Modelle richtete? So lautet die Grundfrage. War es die eines bloßen Sujets mit exotischem Einschlag oder die einer universalen Menschheitsvorstellung?

Drei historische Schwerpunkte haben die Ausstellungskuratoren abgesteckt: die Auseinandersetzung mit dem Sklavensystem in der Malerei des frühen 19. Jahrhunderts; die Darstellung andersfarbiger Figuren im nicht mehr akademischen Malstil bei Manet, Degas, Gauguin, Cézanne; sowie die moderne Faszination bei Picasso, André Derain, Matisse für afrikanische, karibische oder ozeanische Ausdrucksformen. Die ausufernde Thematik hat somit in dem fürs 19. Jahrhundert zuständigen Orsay-Museum zumindest ihre zeitlichen Eckpfeiler gefunden: die Zeit zwischen Französischer Revolution und dem Vorabend der Entkolonialisierung.

Die formale Abschaffung der Sklaverei durch die Französische Revolution und die Eingliederung von Santo Domingo nach dem erfolgreichen Sklavenaufstand in die junge Republik führte dazu, dass Dunkelhäutige nicht mehr bloß wegen ihres exotischen Aussehens, sondern mitunter auch wegen ihres persönlichen Ansehens vor die Staffelei der Maler kamen. Bekannt ist das Porträt des stolz posierenden dominikanischen Abgeordneten Jean-Baptiste Belley von Anne-Louis Girodet, das 1798 in Paris auf dem Salon gezeigt wurde.

Dennoch blieb die Aufmerksamkeit für solche Minderheiten zunächst bescheiden. Napoleon hatte schon 1802 den Sklavenhandel aus strategischen Gründen in der Karibik wieder eingeführt. Selbst der um das Los der Schwarzen besorgte Maler Théodore Géricault hatte sein berühmtes Bild "Das Floß der Medusa" in einer ersten Skizze noch mit ausschließlich weißen Schiffbrüchigen gemalt. Erst in der Endfassung schwingt inmitten der vor Ermattung blassen Körper ein Schwarzer sein Halstuch in Richtung des in der Ferne vorbeifahrenden Schiffs. Joseph hieß der Mann, der für jene Figur Modell saß. Er war ein 1808 nach Frankreich gekommener Haitianer, der als Mitglied einer Akrobatentruppe durchs Land zog und bald zum Lieblingsmodell in den Pariser Ateliers wurde.

Auch viele weiße Modelle seien doch anonym geblieben, könnte man einwenden, und dieses Aufspüren längst vergessener Personen komme übers Anekdotische nicht hinaus. Interessant ist aber, was dieser Forschungsaspekt über die Einstellung der Maler und Bildhauer gegenüber den Rassen- und Klassenunterschieden aussagt. Das Spektrum reichte von Gleichgültigkeit bis zu Mitgefühl, Empörung, Kritik und wirrer Schwärmerei. Eine von Marcel Verdier, einem Schüler von Jean-Auguste-Dominique Ingres, gemalte Auspeitschungsszene eines Schwarzen wurde 1843 vom Pariser Salon als anstößig zurückgewiesen. Als die Sklaverei aber fünf Jahre später in Frankreich endgültig abgeschafft wurde, feierte die Zweite Republik das mit einem großformatigen Auftragswerk von François-Auguste Biard. Unter dem erhabenen Blick des Pariser Gesandten mit Trikolore zerbrechen auf Biards Bild zwei Schwarze schwungvoll ihre Ketten. Bei anderen Malern schäumt die Freude der Menschenverbrüderung in allegorischem Kitsch.

Mit geschickt ausgesuchten Kontrasten zeigt die Ausstellung unterschiedliche Entwicklungstendenzen in ihrem Frühstadium auf. Manche Künstler wie der britische Bildhauer Herbert Ward verschrieben sich mit klischeehaften Darstellungen der scheinwissenschaftlichen Rassentypologie. Andere wie Charles Cordier mit seinen reizvollen Alabaster- und Bronzebüsten einer "Afrikanischen Venus" hingen dem Gedanken einer universalen Idealschönheit nach. Wie in einem Zeitraffer taten sich um die Mitte des vorletzten Jahrhunderts gegensätzliche Wege auf. Der Roman "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher Stowe und Gobineaus "Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen" sind im Abstand eines Jahres erschienen. Das hat auch in der Kunst Spuren hinterlassen. Dass etwa die schwarze Dienstmagd mit dem Blumenstrauß in Manets berühmter "Olympia" bei der Polemik um die Nacktheit der Weißen in diesem Bild 1865 praktisch übersehen wurde, lässt sich als Degradierung der Figur zum bloßen Kulissenelement deuten.

Dabei hatte gerade mit Manet in der Malerei eine Eintrübung des exotischen Blicks eingesetzt, die später von Cézanne mit seinem "Schwarzen Scipion", von Paul Gauguin oder Henri Rousseau, bald auch von Henri Matisse fortgeführt wurde. Das bedeutet nicht, dass selbst bei den Bewunderern der "art nègre", der aus Amerika angereisten Jazz-Virtuosen oder der halbnackt swingenden Tänzerin Josephine Baker die latent rassentypischen Klischees verschwanden. Den Architekten Le Corbusier veranlasste Josephine Baker zu heißen Fantasien auf dem Zeichenblatt. Von den Texten André Bretons oder Michel Leiris' bestärkt, vom Selbstbewusstsein der "Négritude" beim Senegalesen Léopold Sédar Senghor und beim martinikanischen Dichter Aimé Césaire bestätigt, wurde die Neigung zur Exotik aber kritisch unterspült. Die Abkömmlinge aus den fernen Kolonien mochten weiterhin als Tigerbändiger, Akrobaten und Clowns die europäischen Bürgerträume nach Fremdartigkeit beflügeln. Zu den senegalesischen Schützencorps, die in der französischen Armee seit dem Ersten Weltkrieg an der Front eingesetzt wurden, fiel den Malern, abgesehen von Kleinformaten etwa von Félix Vallotton, nicht mehr viel ein.

Diese ganze Problematik wird sich dann erübrigen, wenn Herkunft und Identität der Bilder sowie der dargestellten Figuren kein Thema mehr sein werden. Bis dahin bleibt noch viel ins Reine zu bringen. Ohne dass allerdings unser Blick auf die Werke ganz von diesen Umstandskriterien vereinnahmt werden sollte. Vor einer allzu ideologisch bestimmten Perspektive bleibt die Museumswelt einstweilen verschont, im Unterschied etwa zum Theater. An der Pariser Sorbonne wurde in diesen Tagen eine Aufführung von Aischylos' "Die Schutzflehenden" von Aktivisten gewaltsam verhindert, weil darin schwarze Masken verwendet werden. Durch solche Überempfindlichkeit wird der Rassismus von der anderen Seite neu aufgerollt. In diese Falle sollte die Selbstbesinnung der Museen auf ihre koloniale Hypothek nicht tappen.

Le modèle noir. De Géricault à Matisse. Musée d'Orsay, Paris, bis 21. Juli. Katalog 45 Euro. Info: www.musee-orsay.fr

© SZ vom 08.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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