Kunst:Raus aus Europa

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Die Berliner Ausstellungen "Hello World" und "Neolithische Kindheit" suchen nach einem neuen Blick auf die Kunstgeschichte. Und sind gleichzeitig Kommentare auf das Chaos am Humboldtforum.

Von Peter Richter

Neolithische Kindheit ist eine Begriffsschöpfung von Carl Einstein, der in der Beschreibungsnot des Kunstkritikers damit sowohl das archaisch als auch das spielerisch Wirkende auf den Bildern von Hans Arp zu fassen versuchte. Weil Einstein heute nicht mehr ganz so bekannt ist, wie es ihm gebühren würde: deutschjüdischer Intellektueller mit größter Reichweite in der Zwischenkriegszeit, Antifaschist, Spanienkämpfer, Flucht nach Paris, nach der Niederlage Frankreichs schließlich Suizid.

Er war nicht im akademischen Sinne ein Kunsthistoriker, obwohl er in dem Fach natürlich seine Vorlesungen gehört hatte. Einstein war eher ein Kunsttheoretiker, der die Produktion seiner Gegenwart durchaus als Apologet beackerte, den Expressionismus, den Dadaismus und dann vor allem den Surrealismus. Sein Kanon der "Kunst des 20. Jahrhunderts", die Erstauflage erschien bereits 1926, mag im Gestusanmaßend gewesen sein, galt aber schnell als maßgebend. Er war im Zuge dessen auch einer der ersten, die die nichtwestlichen Einflüsse auf die Kunst der Moderne in den Blick nahmen und wiederholt über afrikanische Plastik, später auch afrikanische Märchen und Mythen publizierte.

Da blitzt immer wieder ein Kommentar zum Chaos am Humboldtforum auf

Es ist nicht zuletzt diese Facette, derentwegen er jetzt zum Angelpunkt einer Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt genommen wurde, die versucht, Einstein und seine Zeitgenossen wie ein Kaleidoskop vors Licht der Gegenwart zu halten. "Neolithische Kindheit - Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930", kuratiert von Tom Holert und Anselm Franke, zeigt Kunst, das muss man vorausschicken, nur unter anderem. Völlig gleichberechtigt präsentiert werden Buchtitel und Manuskripte. Die ganze Austellungsarchitektur ist aufgemacht wie eine Grabungsstätte zur archäologischen Freilegung der geistigen Situation einer Zeit.

Gleich im ersten Kapitel wird das Krisenbewusstsein dieser Zeit greifbar, das ausgeprägte Gefühl, dass mit der Weltwirtschaftskrise nicht nur der liberale Kapitalismus, sondern das ganze selbst- und fortschrittsgewisse Projekt des Westens als solches an seine Grenzen gekommen sein könnte. Die Fluchtwege, die damals eine Rolle spielten, zielten ins Archaische, in eine idealisierte Jungsteinzeit als Kindheit des Menschen oder noch darüber hinaus, ins Tiefenzeitliche, also in die inkommensurablen Weiten des rückwärtigen Zeitstrahls, auch ins Irrationale, Mystizistische, Halluzinatorische. Oder aber in Anthropologie und Ethnologie, ins Außereuropäische, Nichtwestliche, das in der Fetischisierung des "Primitiven" zum Teil kurzerhand mit dem Urzeitlichen kurzgeschlossen wurde, jedenfalls als "allochron" galt, also irgendwie nicht zur selben Gegenwart wie die westliche Moderne gehörend. Der Essentialismus, der sich heute hinter den Versprechen einer neurowissenschaftlichen Ästhetik verbirgt, das antihumanistische Ressentiment, das manchmal hinter dem Stichwort vom "Anthropozän" aufblitzt, oder die mitten in den Wohlstandsgesellschaften wieder in Mode gekommene Zuflucht in nichtwestliche Weisheitslehren und magische Praktiken, stehen dabei immer mit im Raum.

Selbst wenn sie das nicht täten, selbst wenn Carl Einsteins Welt gar nichts mit unserer zu tun hätte, wäre es ein Gewinn, sich mit dem Ausstellungsmanual in der Hand über den Bücher-Vitrinen und all die surrealistischen Weltlandschaften hineinzuarbeiten. Man begegnet illustrem Personal, Georges Batailles natürlich, mit dem Einstein die Zeitschrift Documents begründet hatte, Sergej Eisenstein, den Malern des Surrealismus, aber auch dem Dichter Bohuslav Brouk, der in den 1930er Jahren von Prag aus seine Pornophilie propagierte, "ein Begehren, das gegen einen bürgerlich-hetero-normativen Begriff von Sexualität gerichtet war", wie es dazu in doch sehr heutiger Diktion heißt. Vor allem begegnet man dem Maler Kalifala Sidibé aus Mali, der in Frankreich eine Zeitlang als "afrikanischer Giotto" gefeiert wurde, und mit ihm begegnet man dem Problem des Kolonialismus und der westlichen Hegemonie über die Begriffe, selbst wenn sie freundlich und lobend gemeint sind.

Damit begegnet man aber mustergültig auch der Gegenwart der Berliner Museen. Denn insgesamt hat diese betont sperrhölzerne Ausstellung natürlich auch etwas von einem etwas naseweisen Wink in Richtung Schlossplatz, wonach man sich vielleicht zwangsläufig die Finger verbrennt, wenn man sich ausgerechnet ethnologische Sammlungen als Weltläufigkeit ausstrahlende Dekoration für ein rekonstruiertes Barockschloss aussucht. Denn dass die Schinkel'schen Fassaden der eigentliche Inhalt und das sogenannte Humboldt-Forum das Ornament sind, ergibt sich nun einmal aus der Genese des Projekts. Bemerkenswert ist, dass über dem vielen Streit über all das Außereuropäische, das dort untergebracht und veranstaltet werden soll, fast ein bisschen in Vergessenheit geriet, was währenddessen dort eigentlich geschieht, wo einst schon die Öffnung zu den USA Grund für Kontroversen war, weil schließlich Nationalgalerie oben drüber steht.

Nun ist die Neue Nationalgalerie noch länger wegen Sanierungsarbeiten geschlossen. Aber gerade, als man sich in Berlin zu fragen begann, warum solange auch schon aus ihrer Filiale für die Gegenwart im Hamburger Bahnhof nichts mehr zu hören war, meldet sich genau die mit einem lauten "Hello World" und nimmt ebenfalls zum postkolonialistischen Komplex der Berliner Kollektionen Stellung. Unter dem fröhlichen Obertitel wird nicht weniger als das ehrgeizige Projekt der "Revision einer Sammlung" vorgestellt: Werke der Nationalgalerie gemischt mit Leihgaben, zum Teil aus benachbarten Berliner Häusern, etwa dem Museum für Asiatische Kunst. Revidiert werden soll hier vor allem der bisherige Fokus auf den Kanon Westeuropas und Nordamerikas.

Mit dieser souveränen Geste der Zerknirschung gelingt dem Haus von Udo Kittelmann tatsächlich so etwas wie die Quadratur des Kreises. Es wendet den Blick in bisher hier als exotisch geltende Weltgegenden wie Indien, die Länder Afrikas, das ehemalige Jugoslawien, die DDR. Ein Künstlerschicksal wie das von Heinrich Vogeler kann so von Worpswede bis nach Kasachstan verfolgt werden. Und in den amerikanischen Heldensälen der inkorporierten Privatsammlung Marx hat man warburgisierende Atlastafeln eingefügt, die das Pathos des auratisierten Kanons mit kunsthistorischer Seminarsatmosphäre ablöschen.

Die Angst der Europäer, selbst kolonisiert und zum Lieferanten kulturellen Beuteguts zu werden

Wer Meisterwerken indessen weiterhin nur im Flüsterton kunstreligiöser Andacht nahegekommen will, ist aber auch willkommen. Immerhin hängen sie noch da, und strahlen, wenn sie stark genug sind, selbst aus den neuen Kontextualisierungen noch heraus. Selbst Barnett Newmans "Who's afraid of Red, Yellow, and Blue IV" von 1969/70, um dessen Anschaffung für die Neue Nationalgalerie es Anfang der Achtzigerjahre so viel Tumult gab, ist endlich wieder einmal zu sehen, und zwar umgeben von Arbeiten des Chinesen Liu Ye zum Thema Rot, Blau, Gelb, sowie "Miffy", einer Kinderbuchfigur, die einem Barnett erhellen, sich aber zu der Riesenleinwand trotzdem ein bisschen so verhalten wie die Putzerfische zum Hai.

Von der Dialektik, dass das, worüber man gern hinaus sehen möchte, trotzdem das eigene Zentrum bleibt, leben die besten Abteilungen dieser Ausstellung: Man wird die europäische Skulptur der Moderne ohne die außereuropäischen Vorläufer nicht mehr sehen können, umgekehrt gilt das aber auch. Und in einem Raum zum Thema "Ein Paradies erfinden: Sehnsuchtsorte von Paul Gauguin bis Tita Salina" sieht man erst die asiatischen Tapeten hinter dem Schreibtisch von Wilhelm Murnau, den ganz normalen europäischen Orientalismus eben, und dann in einem Video der Künstlergruppe GCC eine Kamerafahrt durch ein Pariser Palais. Man sieht Alteuropas Säulen, Stuck und alte Meister, und dazwischen auf einmal eine Sauna, einen Supersportwagen im Hof, arabische Schriftzeichen an der Wand. Viele hat das an Houellebeqcs "Unterwerfung" erinnert, und vielleicht soll das Video tatsächlich die Angst der Europäer evozieren, nun selbst kolonisiert und zum Lieferanten kulturellen Beuteguts zu werden.

Kühler und ressentimentfrei betrachtet lenkt es aber den Blick auch schon wieder zurück auf das Neubauschloss in Berlins Mitte und die Frage, wofür dort wem eigentlich Eintrittskarten ausgehändigt werden sollen. Der Gedanke, dass in die barocken Hüllen eigentlich am besten die barocken Bilder passen, die in der Gemäldegalerie am Kulturforum weitgehend vor Besuchern in Sicherheit sind, ist so alt wie er vermutlich leider selbst im Angesicht des konzeptuellen Chaos am Humboldtforum immer noch chancenlos ist. Aber die sogenannte Welt, sofern sie denn selbst nach Berlin kommen und hier nicht nur zum Beleg vorbildlicher Eurozentrismusüberwindung in die Vitrinen gelegt werden soll, die könnte sich womöglich ja dafür noch interessieren. Denn so schlecht wie das Gewissen der Europäer ist ihre Kunst nun auch wieder nicht.

Neolithische Kindheit, Haus der Kulturen der Welt, bis 9. Juli, Info: www.hkw.de

Hello World, Hamburger Bahnhof, bis 26. August, Info: www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/hamburger-bahnhof

In einer früheren Version dieses Artikels haben wir den chinesischen Künstler Liu Ye noch als Frau bezeichnet. Wir bitten dies zu entschuldigen!

© SZ vom 25.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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