Kunst:In bestehende Systeme eindringen

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Das Künstlerkollektiv Ruangrupa aus Indonesien wird die nächste Documenta ausrichten. Es gehe ihnen um eine bestimmte Denkweise: "Wir lesen, denken, entscheiden in der Gemeinschaft."

Interview von Catrin Lorch

Dass der künstlerische Leiter der Documenta 15, die im Jahr 2022 stattfinden soll, weder aus Europa noch aus den USA stammen wird, war zu erwarten. Die Berufung von Ruangrupa, die am vergangenen Freitag bekannt gegeben wurde, war dennoch überraschend; bislang galten Gruppen oder Kollektive als ausgeschlossen. Doch die Findungskommission entschied sich einstimmig für das aus Jakarta stammende Kollektiv, das im Jahr 2000 gegründet wurde und bei Ausstellungen in Istanbul, São Paulo, Brisbane oder Paris auftrat. Auch als Kuratoren sind Ruangrupa in Europa bekannt. In Jakarta betreibt Ruangrupa in einem ehemaligen Lagerhaus Ateliers, einen Radiosender, ein Kunstmagazin, ein Filmtheater, eine Konzertagentur, ein Forschungsinstitut mit angeschlossener Bibliothek, eine Kunstschule für Kinder und das Bildungsnetzwerk "Gudskul". In Kassel traten der Künstler Ade Dawarman und der Architekt Farid Rakun bei der Pressekonferenz auf, als Vorhut der Gruppe, zu der Ajeng Nurul Aini, Daniella Fitria Praptono, Indra Ameng, Iswanto Hartono, Julia Sarisetiati, Mirwan Andan, Narpati Awangga und Reza Afisina gehören.

SZ: Sie sind die ersten Kuratoren, die nicht aus dem westlichen Kunstbetrieb stammen. Was bedeutet die Documenta für Sie?

Ade Dawarman: Von Jakarta aus betrachtet ist sie weit weg.

Farid Rakun: Es ist nicht so, dass wir uns allein oder vor allem als Indonesier verstehen - aber bis auf das Radioprogramm gab es bislang wenig Berührungspunkte mit der indonesischen Kunst. Allerdings habe ich die Documenta 13 gesehen.

Wie hat man Ruangrupa dafür gewinnen können, sich dem aufwendigen Bewerbungsprozess zu unterziehen? Sie mussten nicht nur ein Konzept einreichen, sondern auch die Realisierung und den finanziellen Rahmen diskutieren.

Ade Dawarman: Wir haben uns gerade selbst mit dem Konzept von "Gudskul" auf unsere eigene Reise gemacht und uns in eine Schule verwandelt. Und sehen die Arbeit an der Documenta als Erweiterung unseres Projekts, unserer Ressourcen und unseres Potenzials. Es geht darum, unser eigenes Ökosystem auszubauen.

Im Pressetext schreiben Sie, dass Sie die Documenta auch als Institution sehen, die im Jahr 1955 angetreten war, "Wunden des Krieges zu heilen", und Sie mit der nächsten Ausgabe das Augenmerk auf "heutige Verletzungen" richten möchten. Wie geht das mit der Idee einer Schule zusammen?

Farid Rakun: Das ist so zu verstehen wie der Begriff "Frankfurter Schule". Es geht um eine Art des Denkens. Wir arbeiten konsequent gemeinsam, es geht darum, unsere Sensibilität als Gruppe auszutesten, wir lesen, denken, entscheiden in der Gemeinschaft.

Ade Dawarman: Es geht um ein Lernen, das auf Erfahrung basiert, nicht auf einer Lehre oder Unterricht. Wir haben in den Neunzigerjahren Ruangrupa zu viert oder zu fünft gegründet, nachdem ich aus den Niederlanden zurückkam, wo ich von 1992 bis 1997 an der Rijksakademie studiert hatte. Seither arbeiten wir jeden Tag zusammen. Auf unserem Gelände in Jakarta gibt es mehr als achtzig Ateliers, es sind derzeit 89 Menschen, die ständig kooperieren.

Sie haben in der Vergangenheit häufig darauf hingewiesen, dass Sie sich unter den Bedingungen eines autoritären Regimes zusammen gefunden haben.

Ade Dawarman: Wir waren alle noch Studenten und haben gemeinsam an Underground-Comics gearbeitet, Diskussionen organisiert, Gigs, Interventionen, Magazine. In Indonesien ist es nicht ungewöhnlich zusammenzuarbeiten, wir haben eine lange Tradition solcher Kooperationen. Aber unter dem Regime von General Suharto waren solche Konstellationen mit einem Mal fragwürdig. Das Regime unterdrückte solche Aktivitäten.

Farid Rakun: Nach dem Ende des Suharto-Regimes gab es dann so etwas wie einen Boom des Kollektiven, wir waren nicht die einzigen. Aber wir hatten alle dieses Trauma des Unterdrückten, wir sind damit aufgewachsen. Deswegen sind uns Autorität und Gewalt zutiefst suspekt. Für uns ist bei der Frage, wie wir uns organisieren, die Frage, wie man Macht managt, entscheidend.

Aber es bleibt nicht viel Zeit - in dreieinhalb Jahren müssen Sie schon eine Documenta eröffnen .

Farid Rakun: Vielleicht sollten wir schnell ein indonesisches Restaurant eröffnen?

Ade Dawarman: Es wird darum gehen, in bestehende Systeme einzudringen. Wir werden in realen Zusammenhängen auftreten, nicht auf der symbolischen Ebene. Und nicht nur an Kunstorten, vielleicht auch in Krankenhäusern. Wir werden uns viel Hilfe holen, beispielsweise für Medienstrategien oder in technologischer Hinsicht. Man kann nicht über Ökonomie sprechen, ohne mit Crypto-Währungen zu arbeiten, vor allem wenn man als Netzwerk global operiert. Diese Vorgänge müssen wir so schnell wie möglich in Bewegung setzen.

Farid Rakun: Wir werden die Documenta neu definieren. Und natürlich werden wir die Einladungen auch ausweiten und hoffen, dass wir interessante Rückmeldungen aus aller Welt bekommen zu Fragen der Erziehung, der Ökonomie und der Kunst. Diesen Prozess werden wir dann am Ende mit der Eröffnung feiern.

Ist das eine Beschreibung dieser neuen Schule des Denkens? Dass die Kunst im realen Leben Auswirkungen hat?

Ade Dawarman: Wir formulieren in Kassel beides: Kunst, die Menschen zum Nachdenken bringt. Und Kunst, die Erfahrungen ermöglicht und die Sinne anregt.

Wird die Kasseler Documenta so etwas wie ein Ableger der "Gudskul" sein?

Farid Rakun: So etwas wäre nie unser Anspruch.

Ade Dawarman: Wir sehen solche Netzwerke eher als Zirkel, als Kreislauf, der sich schließt.

© SZ vom 25.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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