Kunst:Dunkelkammer

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Die Fotokünstlerin Khadija Saye, als Tochter gambischer Einwanderer in London geboren , gehörte zum vielversprechenden Künstler-Nachwuchs in Großbritannien. Nun kam sie im brennenden Grenfell Tower um, wo sie wohnte. Es bleiben die Bilder.

Von Alexander Menden

Khadija Saye und ihre Mutter May Mendy waren in ihrer Wohnung im 20. Stock des Grenfell Tower in North Kensington, als in der Nacht zum 14. Juni sechzehn Stockwerke tiefer ein Feuer ausbrach. Es fraß sich, wie bald auch die Weltöffentlichkeit erfahren sollte, rasend schnell an der Fassade des Londoner Hochhauses empor. Khadija Saye schickte verzweifelte Hilferufe über Facebook, aber das Feuer hatte ihre Wohnung bereits eingehüllt. Zwei Tage später wurde zur Gewissheit, was die Freunde der 24-Jährigen bereits befürchtet hatten: Beide Frauen waren im schlimmsten Wohnhausbrand der britischen Nachkriegsgeschichte ums Leben gekommen.

Die Geschichte der Fotokünstlerin ist sehr ungewöhnlich: Als Tochter gambischer Einwanderer in London geboren, wurde ihr, als sie 16 war, ein Stipendium für die exklusive Privatschule Rugby angeboten. Die privilegierte Existenz, die ihre Mitschüler als selbstverständlich erachteten, war für sie eine fremde Welt. Sie selbst hatte nur ein geringes Einkommen aus ihrem Beruf als Pflegerin und lebte nach dem Schulabschluss weiter in der Sozialwohnung im Grenfell Tower. Hier hatte sie auch eine Dunkelkammer eingerichtet, in der sie ihre Fotos entwickelte und abzog.

Khadija Saye galt als eine der aufregendsten jungen britischen Künstlerinnen, die kurz vor dem Durchbruch stand. Am Tag vor dem Feuer hatte sie sich dem Leiter einer wichtigen Londoner Galerie getroffen, der ihr anbot, sie zu repräsentieren. Ihre Fotoserie "Dwellings - in this space we breathe" ist derzeit im Diaspora-Pavillon der Biennale in Venedig zu sehen. Die Fotografin wählte das Kollodium-Nassplatten-Verfahren, eine Fotomethode des 19. Jahrhunderts, um mit einer Selbstporträt-Reihe die Geschichte der afrikanischen Diaspora und der Übertragung spiritueller Traditionen nach Europa zu verarbeiten. Seit einigen Tagen zeigt auch die Londoner Tate Britain eines dieser "Dwellings"-Fotos mit dem Titel "Sothiou", um Khadija Sayes zu gedenken.

Die Serie zeigt die Künstlerin meist mit verdecktem Gesicht, geschlossenen Augen, oder mit dem Rücken zum Betrachter. Dadurch entsteht nie ein Effekt der Abwendung oder Introvertiertheit. Vielmehr hat man das Gefühl, einer Abfolge von Ritualen beizuwohnen: Saye, gekleidet in traditionelle, festliche gambische Kleidung, lauscht in ein Gefäß hinein, präsentiert ein Bündel schmaler Stöcke, verdeckt ihr Gesicht teilweise oder ganz hinter Früchten und Blumen, die sie im Mund hält. Die Fremdheit dieser Gesten ist nicht entfremdend, sondern weckt Neugier auf ihre Bedeutung. "Dwellings" ist auch frei von jedem Exotismus - hier findet keine Fremdaneignung vermeintlich primitiver Riten statt, sondern eine selbstbewusste Behauptung kultureller Eigenständigkeit. Zugleich bewahrt es sein Geheimnis gerade dadurch, dass Khadija Saye es durch den Filter einer obsoleten Fototechnik zeigte.

Die archaische Kraft dieser Bilder war es auch, die Sayes Mentorin, die Porträtmalerin Nicola Green, auf sie aufmerksam machte. "Khadijas Geschichte ist inspirierend", sagt Green, die eine Stiftung zur Förderung junger Künstler in Sayes Namen gegründet hat. "Sie muss erzählt werden, damit andere Khadijas dieser Welt sie hören."

© SZ vom 27.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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