Kunst:Die Wahrheit eines einzelnen Moments

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Die Künstlerin und Filmemacherin Mariam Ghani stellt die Geschichtsschreibung infrage. Als Tochter des afghanischen Präsidenten hat sie dazu ein besonderes Verhältnis. Ein Besuch in Brooklyn.

Von Sonja Zekri

Der afghanische Filmemacher Latif Ahmadi bietet in der kniffeligen Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit eine pragmatische Lösung an. Ahmadi hat Filme für Afghanistans Kommunisten gedreht, der unvollendete Spionagethriller "Agent" aus dem Jahr 1991 liegt ihm besonders am Herzen. Und da er sehr wohl weiß, dass die Akzeptanz für solche Propagandawerke seit der Niederlage der Kommunisten drastisch eingebrochen ist, macht er einen Vorschlag zur Güte: Warum, so fragt er, könne man "Wahrheit und Fiktion" nicht einfach trennen? Einige Szenen enthielten doch durchaus reale Elemente, man hätte lediglich nur ein paar "weitere Realitäten" hinzufügen müssen, schon wäre der Film fertig gewesen.

Latif Ahmadi hat mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von Takis Würger gehört, auch nicht von Robert Menasse oder Christoph Hein, und wer hierzulande sonst noch wegen des Umgangs mit historischen Fakten ins Gerede gekommen ist. Aber Ahmadi kennt Mariam Ghani, und Ghanis Werke drehen sich sehr häufig um historische Wahrheit, um die Frage, ob es sie überhaupt gibt und wenn ja, wie viele. Mariam Ghani ist eine amerikanische Künstlerin, als Treffpunkt für das Interview hat sie ein Café in der Nähe ihrer Wohnung in Clinton Hill, Brooklyn, vorgeschlagen. Zugleich aber ist sie die Tochter des afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani, außerdem Frauenrechtlerin, Filmemacherin und, auch wenn das kein Beruf ist, politische Zeitgenossin.

Latif Ahmadi ist ein Protagonist in Ghanis jüngstem Dokumentarfilm "What We Left Unfinished". Er lief auf der Berlinale und wird ab Donnerstag auf dem Filmfestival in San Francisco gezeigt und erinnert an "Agent" und vier weitere unvollendete afghanische Kinofilme während der unübersichtlichen kommunistischen Herrschaft in Afghanistan in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Es waren staatlich produzierte und staatlich kontrollierte Auftragsarbeiten, meist Actionfilme, seltener Liebesdramen, und sie verfolgten ein ähnliches Ziel wie die Kinoindustrie in der Sowjetunion. Sie sollten die kommunistischen Versprechen - Frauenrechte, Bildung, Modernität - gegen die Feinde des Systems - Drogenschmuggler, Mudschaheddin, Pakistan - verteidigen.

Weil es keine Platzpatronen gab, drehten sie die Actionfilme damals mit echter Munition

Dafür boten erst die afghanischen Kommunisten und nach dem sowjetischen Einmarsch 1979 auch die sowjetischen den Filmemachern paradiesische Bedingungen: Sie erhielten Einsicht in Geheimdienstakten, bekamen vom Staat echte Autos, die sie in die Luft jagen konnten, echte Militärhubschrauber und Soldaten. Platzpatronen waren nicht zu bekommen, also drehten sie mit realer Munition. Dass in all den Jahren nur ein Schauspieler versehentlich erschossen wurde, ist ein Wunder. Dass einige der Regisseure voller Nostalgie an jene Jahre größter cinematografischer Relevanz zurückdenken, sehr begreiflich.

Ghani lässt sie in ihrem Film in Erinnerungen schwelgen, auch wenn ihre eigene Familie über die Kommunisten wenig Gutes sagen kann. Nach dem Putsch von 1978 - es gab mehrere - und dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 wurden so gut wie alle männlichen Mitglieder ihrer Familie verhaftet, ein Großonkel sofort erschossen. Ghanis Vater Aschraf, ein Anthropologe, und ihre Mutter, eine libanesische Christin, hatten sich in Beirut kennengelernt und lebten da längst in Amerika.

Und doch fällt es Mariam Ghani nicht schwer, die Verführungskraft jener Jahre nachzuvollziehen, vor allem für die Künstler, die, wie immer, durch nichts einfacher zu korrumpieren waren als durch unbegrenzte Möglichkeiten des Schaffens: "Als zeitgenössische Künstlerin stehe ich vor derselben Frage: Woher kommt das Geld? Wie viele Kompromisse mache ich, um ein Projekt zu finanzieren?" Afghanistan sei damals einen "faustischen Pakt" mit Moskau eingegangen. Es war ja nicht allein, viele Länder der Dritten Welt, wie man das damals nannte, waren elektrisiert von der Aussicht auf Fortschritt und Entwicklung. Und es war keine afghanische Besonderheit, dass diese Modernisierung die Städte nie verließ, dass die Frauenrechte nie die Dörfer erreichten, dass eine Landreform katastrophal scheiterte.

In den Filmen, die Ghani für "What We Left Unfinished" aus dem Archiv in Kabul gerettet und restauriert hat, leuchten diese Versprechen in psychedelischen Farben. Es gibt Szenen von Partys, Whiskey und Swimmingpools, Männer mit Schnäuzern tanzen mit Frauen in Technicolor-Make-up, und alle haben unglaubliche Frisuren. Kabul sieht ein wenig aus wie Kalifornien, aber es ist ein sonniger Albtraum, denn die Plots sind brutal und der Geheimdienst ist der Held der Filme. Dass die Filmemacher das Hohelied des Regimes drehen wollten, aber Erzählungen über Paranoia, Überwachung und Verrat herauskamen, erstaunt Ghani nicht: "Diese Filme sind die Fieberträume des kommunistischen Staates", sagt sie: "Die hysterischen Symptome des Traumas treten in der Popkultur an die Oberfläche."

Die größte Gefahr für ihre Arbeit liegt nicht in Afghanistan, sondern in den USA

Durch ihren Schnitt verstärkt sie diesen Effekt. Während der Ton erzählt, wie ein Regisseur den ermordeten afghanischen Präsidenten Mohammed Daoud Khan findet, der mit seinen Angehörigen beim Essen erschossen worden war, zeigt Ghani Bilder einer Szene aus einem völlig anderen Film. Darin finden Soldaten ebenfalls eine ermordete Familie, aber sie wurde vergiftet: keine Kugeln, kein Blut, wenn auch viele Tote um einen Esstisch. Es ist ein Effekt wie in modernen Operninszenierungen, wenn das Libretto, also der Gesang, eine abweichende Geschichte erzählt von dem, was sich auf der Bühne abspielt, und der Zuschauer selbst entscheiden muss, was er glauben will.

Vergiftete Familie: Szene aus einem Propagandafilm des kommunistischen Afghanistan in Mariam Ghanis "What We Left Unfinished". (Foto: Mariam Ghani)

Aber was heißt schon Wahrheit? Eine übliche Wahrheit über Afghanistan lautet in etwa so, dass da ein Land nach vielen Jahren Krieg im Extremismus versinkt, Taliban, Korruption. Wer Mariam Ghanis Doppelinstallation "A Brief History Of Collapses" auf der Documenta 13 gesehen hat, weiß, dass dies bestenfalls eine Wahrheit ist oder wie sie es sagen würde: die Wahrheit eines einzelnen Moments.

In "Eine kurze Geschichte von Einstürzen" konfrontiert sie die Geschichte des Kasseler Fridericianums mit jener des Darul-Aman-Palastes in Kabul, ersteres Ort der größten Kunstschau der Gegenwart, letzterer eine Ruine, die restauriert und nächstes Jahr mit viel Glück als Nationalmuseum eröffnet wird. Ghani erinnerte an die Brüder Grimm, die als Bibliothekare im Fridericianum arbeiteten, an das "Es war einmal" der deutschen Märchen und an arabische Volksmärchen, die mit den Worten "kan ja makan" beginnen: es war oder es war nicht. Mit weiten Kamerafahrten durchstreifte sie die Säle in Kassel und Kabul und beschrieb, dass das Fridericianum im Krieg zerstört und wieder aufgebaut wurde, der Darul-Aman-Palast aber das Werk deutscher Architekten im Auftrag des afghanischen Königs Amanullah war, erbaut 1920 für das afghanische Parlament als Krönung eines gigantischen Modernisierungsprojektes. Die derzeitige Form, das aktuelle Äußere ist für Ghani nur das Aufscheinen eines Zustandes aus vielen anderen im Laufe der Zeit.

"Spekulative Geschichtsschreibung" nennt sie ihre Methode. Es ist der Versuch, aus den Äußerlichkeiten der Gegenwart Rückschlüsse zu ziehen auf die Ereignisse, die dazu geführt haben. Und sie wird immer dann nötig, wenn es keine objektiven Aufzeichnungen gibt, wenn Geschichte von einer einzigen Gruppe überliefert wird, andere Stimmen unter den Tisch fallen oder sich widersprechen oder sich nicht zu einer kohärenten Erzählung komprimieren lassen, beispielsweise nach Diktaturen oder Bürgerkriegen oder Konflikten, also eigentlich fast immer.

Für ihren Film "The Seen Unseen" aus den Jahren 2015/16 recherchierte sie über die geheimen CIA-Gefängnisse in Afghanistan, was insofern erstaunlich war, als ihr Vater damals schon Präsident war. Er habe sie aber ermuntert, sagt sie. Ob er sich ähnlich wie sie darüber ärgerte, dass der Westen die Geschichte Afghanistans erzählte, sagt sie nicht.

Auch die Geschichte westlicher Paranoia ist ja beachtlich. Ein paar U-Bahn-Stationen von ihrer Wohnung in Brooklyn entfernt zeigt das Museum of the City of New York bis Ende April die Ausstellung "Germ City" über "Mikroben und Metropolen". Ghani hat den Einführungsfilm gedreht. Es ist ein atemberaubender Streifzug durch Jahrzehnte immer auch politischer Schädlings- und Gesundheitsmetaphern vom "Stürmer" über die Bolschewiken bis zur amerikanischen Formulierung, Ebola sei "der IS unter den Seuchen".

Die größte Gefahr für ihre Arbeit liegt ohnehin nicht in Afghanistan, obwohl sie sich dort als Tochter des Präsidenten kaum noch bewegen kann und viele Menschen nicht mehr so offen reden wie früher. Nein, die spekulative Methode selbst steht unter Verdacht. Wenn der amerikanische Präsident die Nachprüfbarkeit von Fakten verspottet, wie soll sie, Ghani, an der Aussagekraft einer "spekulativen", künstlerischen Wahrheit festhalten? Es sind schwierige Zeiten für eine Künstlerin, deren Material die Geschichte ist: "Trump hat alles versaut."

© SZ vom 09.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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