Kunst:Begriff sucht Inhalt

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"Immersion". Klingt beeindruckend. Jetzt fragt das nächste Festival, was das eigentlich sein soll.

Von Till Briegleb

Seit ein paar Jahren häufen sich Veranstaltungen, die "immersive Kunst" zeigen wollen. Und jedes dieser Festivals könnte denselben Untertitel tragen: Ein Begriff sucht einen Inhalt. Denn wo schon das Publikum selten eine Vorstellung davon hat, was das neue Label Immersion eigentlich genau verkauft, zeigen auch die sogenannten Experten wenig Neigung, das Nebulöse der Vokabel mit ein paar erklärenden Gedankenstrahlen zu vertreiben. So auch beim Podium anlässlich eines immersiven Festivals in Bochum im dortigen Schauspielhaus, wo die Künstler sich bereits in den ersten Sätzen von dem Begriff distanzierten, bevor er überhaupt erklärt war. Die Organisatoren überspielten dagegen ihre Unsicherheit über die Definition von Immersion damit, dass sie es mit Eintauchen gleichsetzten - weswegen die viertägige Veranstaltung eben "Dive" hieß.

Aber auch größere Tagungen und Festivals - etwa im Gropius-Bau in Berlin, wo der Leiter der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, eine aufwendige Programmreihe zum Begriff der Immersion betreibt - scheitern regelmäßig daran zu erklären, wofür man die Vokabel überhaupt braucht. Das ganze Konzept hinter dieser Begriffslancierung beruht einzig auf der Behauptung, das digitale Zeitalter bringe eine besondere Qualität der Überwältigungsästhetik hervor, die Menschen so weit von der stofflichen Realität entfernt, dass sie inszenierte Welten wie reale behandeln. Doch die Empfänger solch immersiven Erlebens sitzen normalerweise nur in verdunkelten Jungszimmern vor Bildschirmen mit Zuckungen in den Fingern, vergessen die Zeit und beschimpfen die Mattscheibe.

Immersion ist ein Begriff, der im Bereich der Bildschirmhypnose, wo er auch herkommt, tatsächlich Sinn ergibt. Nur neigt der gebildete Kulturmensch notorisch zur ständigen Übertragung seiner Termini auf andere Gebiete. Und so entdecken Festivalmacher Immersion jetzt auch weit jenseits muffiger Kinderzimmer, etwa im Barocktheater und der Molekularküche, im Rausch und in der Kirche, beim Einhand-Sex und in der Verschwörungstheorie. Überall verliert sich der Mensch angeblich im Medium, alles ist plötzlich Immersion. Und ein Festival wie Dive beweist mit seiner Programmauswahl dann schlüssig, warum alte wie neue Universalvokabeln vor allem Worthülsen sind, die jeder mit allem füllen kann.

Inmitten der „Sensefactory“ ruht sich ein Besucher ratlos in einer immersiven Begriffsblase aus. (Foto: Daniel Sadrowski)

Das Hauptwerk dieses Festivals etwa, die Rauminstallation "Sensefactory" in der Zeche eins, konzipiert von den Multimediaexperten Dietmar Lupfer und Chris Salter, ist eine aufblasbare Temporärarchitektur, die man sonst Hüpfburg nennen würde. Weiße Quader, von denen manche an- und abschwellen, bilden ein erstaunlich kurzes Labyrinth. Das riecht wie die Schwimmflügel der Kindheit und wird mit Sounds von FM Einheit beschallt, dazu wechseln die Lichtstimmungen. Dieser Plastikspielplatz, der außer dem Geschmack alle Sinne adressiert, ist mit dem Adjektiv nett ausreichend beschrieben. Überwältigung lässt er jedenfalls völlig vermissen, neu ist die Idee auch nicht. Die Hüpfburg "White Bouncy Castle" von William Forsythe vor zehn Jahren etwa, in der die Besucher sich bis zur Erschöpfung austoben konnten, bot weit mehr Grenzverwischung zwischen Zuschauer und Inszenierung - was ja gern als weiteres Kriterium immersiver Kunstwerke angeführt wird.

Aber immersiv nannten sich bei diesem Themenfestival auch Aufführungen, die man früher einfach als Konzert, Medienkunst, Quatsch oder Folter bezeichnet hätte. Im Planetarium der Stadt Bochum, einer Örtlichkeit, die das immersive Versinken in Weltallsimulationen schon immer für sich proklamieren konnte, zeigte Ulf Langheinrich als Finale des Festivals seine Arbeit "Lost". Grellste Lichtblitze in Stroboskopgeschwindigkeit in den Farben Rot, Blau, Grün, Weiß schufen auf der Netzhaut aller hartgesottenen Besucher, die aus den Liegesitzen in die Kuppel starrten, Interferenzmuster und Schmerzen. Der Kurator des Festivals, Tobias Staab, beschrieb das recht zutreffend als "Nahtoderfahrung".

Langheinrich hatte im Keller des Schauspielhauses noch eine weitere Attacke auf die Augen mit dem Titel "Waveform X" installiert, die allerdings eher pfleglich ausfiel. Pixelrauschen, stakkatoartig unterbrochen von Farbflächen, erzeugte für Momente den Eindruck eines tiefen Raums auf der Leinwand, eine trotz allem Bildfeuerwerk recht statische Eintauchästhetik, deren Reiz sich schnell erschöpfte.

Aber gegenüber der "immersiven" Performance "The Influencer" von WEHR 51 im Planetarium war diese Komposition des historischen Sendeschlusses als Bildwechselstrom immerhin ein seriöses Medienkunstwerk. Die alberne Bloggerin NatNike, die in einem Fenster zum Weltraum in der Kuppel erschien, um das Publikum von Jute statt Plastik zu überzeugen, während Stimmen die Vorgeschichte des Goldenen Vlieses erzählten, belegte nur die alte These, dass sogenannte Immersionskunstwerke ein echtes Problem mit Inhalten haben, weil sie schon die Technik überfordert. Eine Beobachtung, die auch für Produktionen gilt, die man auf Virtual-Reality-Festivals in der 360-Grad-Brille ansehen kann. Über die schlecht aufgelösten Bildwelten hinaus, die mal fantastisch, mal dokumentarisch wirken wollen, erzählt diese neue Kunstmode selten etwas Subtiles oder Substantielles über die Welt, und wenn doch, könnte man es meist mit Film oder Theater viel besser transportieren.

Früher hätte man diese Installation wahrscheinlich einfach als Hüpfburg bezeichnet. (Foto: Daniel Sadrowski)

Aber auch die alte Überwältigungskunst Musik musste beim Dive-Festival als immersiv vereinnahmt werden, um die Unschärfe des Begriffs weiter zu erhöhen. Der Musiker Gero Koenig warf eine Bildharfe in die Kuppel, deren "Resonanzpunkte" als Davidsterne gemalt waren, die sich bei Kontakt in gelbe Judensterne verwandelten und obertonreiche Brummlaute auf einem analogen Saiteninstrument produzierten. Die Steuerung der Klangerzeugung durch Handbewegungen vor einer Kamera ist aber nichts anderes als die Kopie des 1920 erfundenen elektromagnetischen Instruments Theremin, das man - ganz immersionsfrei - ebenfalls mit der Hand in der Luft spielt.

Blieb das lange Schlagzeugsolo mit angesteuerten Soundeffekten von Andrea Belfi, das vom Leipziger WISP-Kollektiv auf die Surroundlautsprecher des Plantetariums so übertragen wurde, dass ein wandernder Raumklang entstand. Das war zwar kompositorisch auch nur die freundliche Version von uralten Experimenten der Neuen Musik. Aber das spielerisch rhythmische Umgehen mit Soundeffekten und Echoschleifen lieferte immerhin die einzige unterhaltsame Live-Performance unter dem Sternendom. Eine neue Marketingformel wie "Immersion" braucht es für diese poppige Spielart elektronischer E-Musik so wenig wie für alles andere, was in Bochum zu erleben war.

Was also anfangen mit solch hohlen Umetikettierungen, die man früher "alter Wein in neuen Schläuchen" nannte? Muss eine angeblich um Präzision bemühte Sprache im Kunstdiskurs wirklich immer wieder neue Begriffe ohne Inhalt erfinden, die so belastbar sind wie eine Seifenblase? Bis heute hat die aufgeblähte Immersionssphäre jedenfalls keine neuen Optionen für die Kunst hervorgebracht, die nicht auch ohne diese Verbalbegleitung entstanden wären. Nennen wir die Dinge doch wieder beim Namen.

© SZ vom 27.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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