Kunst:Auf den Marmorkippen

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Das nikotinfeindliche New York feiert den hundertsten Geburtstag des Fotografen Irving Penn und begegnet sich dabei selbst als ehemalige Welthauptstadt des bedingungslosen Qualmens.

Von Peter Richter

Es gibt, kein Witz, wirklich Leute, die sich die Nase zuhalten, wenn sie in der großen Retrospektive zum 100. Geburtstag von Irving Penn im Metropolitan Museum in den Raum mit den Zigarettenkippen treten. Sie haben auf dem Weg dahin Penns frühe Stillleben in Farbe sehen dürfen und die Prominenz der späten Vierziger in feinem Schwarzweiß: den jungen Truman Capote, wie er in Nadelstreif und Fischgrät das leidende Genie mimt, Strawinski mit horchender Hand am Ohr oder Elsa Schiaparelli mit gebieterischer Geste... Dann natürlich seine Modefotos für die Vogue, unbegreifliche Schönheiten unter unbegreiflichen Hüten, in Tüll drapiert wie Präsentkörbe. Da waren die schönen, heroischen Bilder von den Quechua in Peru, von Indigenen in Papua Neuguinea und von Vollstverschleierten in Marokko. Vielleicht haben die Aktfotos ein bisschen irritiert mit ihrer Obsession fürs Mollige. Oder die Arbeiter und Handwerker, die Irving Penn als einen August Sander des Fotostudios zeigen. Aber dann kamen auch gleich schon die großen Europäer: der in sich selbst verknotete Jean Cocteau, der schöne, traurig durch seine Brille schauende Yves Saint Laurent und natürlich Pablo Picasso mit diesem riesigen schwarzen Auge, das auf den Betrachter zielt, als sei es die Mündung einer Pistole. Alles sehr ausgesucht, alles sehr schön, alles irgendwie edel. Und dann auf einmal stinkende Stummel.

Auch als Fotograf blieb Penn der Maler, der er so gern geworden wäre

Das empörte Husten, das man vor diesen Bildern nun hört, ist der museumspraktische Glücksfall einer gelungenen Rezeptions-Rekonstruktion. Denn es hat eben offensichtlich nicht nur damit zu tun, dass in New York heute kaum noch jemand raucht außer Obdachlosen und Touristen aus Europa. Es ist mehr oder weniger die gleiche Reaktion, die diese Bilder schon zu ihrer Zeit, Mitte der Siebzigerjahre, hier ausgelöst hatten, als New York noch so etwas wie die Weltmetropole des stilbewussten Qualmens war. Die Serie entstand ab 1972, und als sie 1975 erstmals im Museum of Modern Art ausgestellt wurde, war selbst der zuständige Kurator John Szarkowski kein Fan. Die New York Times beschwerte sich über die "ekelhafte, hässliche, abstoßende und sehr widerwärtige" Natur des Gegenstandes. Nur im immer schon quergebürsteten New York Magazin versuchte sich eine Kritikerin verhalten aufgeschlossen zu zeigen: Die Zigarettenstummel erinnerten sie an "erodierte Steinsäulen oder neolithische Gerätschaften oder Knochenkrankheiten." Wer Irving Penn als einen der ganz großen Fotografen Amerikas bewunderte, konnte es in der Regel nicht fassen: Wo war die Präzision, die Klarheit, der Chic und der Glamour, für den der Mann zu Recht so berühmt war?

Tja. Das war es ja eben. Der Straßenmüll war für Penn an diesem Punkt seiner Karriere auch ein Fluchtort vor genau all dem, wofür er bekannt war. Was allerdings die Qualität der Fotodrucke angeht - dermaßen viel Aufwand hat er in seinem Leben für kaum ein anderes Projekt betrieben, und er hat in seinem Leben eigentlich für so gut wie jedes Projekt enormen Aufwand betrieben.

Penn war 1917 in Plainfield, New Jersey, zur Welt gekommen, der Vater, ein Uhrmacher, war ein jüdischer Immigrant aus Osteuropa, der hier seinen Namen geändert hatte. Die Mutter ging nach der Scheidung mit den Kindern nach New York, wo später ein anderer osteuropäischer Immigrant eine Art Vaterrolle für ihn einnehmen sollte; Alexey Brodovitch, der Art Director der Modezeitschrift Harper's Bazaar, wurde sein Mentor. Penn wurde ein Lehrling in der Welt der Eleganz und des grafischen Designs, er begann zu fotografieren. Aber eigentlich wollte er etwas anderes. Eigentlich wollte er Künstler werden, und zwar Maler. Er wäre gern nach Paris gegangen damals, wie die meisten jungen Amerikaner, die gern Künstler werden wollten. Aber inzwischen war Krieg, und so ging Penn 1941 nach Mexiko. Man kann nur ahnen, was und wie er da so gemalt hat - im Bannkreis von Rivera und Kahlo, denn ein Jahr später hat Penn sämtliche Bilder vernichtet, und das war es dann mit der Malerei für ihn. Kurz darauf ist er wieder in New York und fotografiert nun für Alexander Liberman, den Art Director der Vogue.

Noch so ein Immigrant aus Russland. Noch so einer, der in der Modepresse arbeitete, aber eigentlich den Künstler in sich spürte. Liberman hat diesem inneren Künstler später dann ja auch ausgiebig Auslauf gegeben, erst hat er gemalt, dann kamen monumentale Metallskulpturen dazu, die man bis heute im öffentlichen Raum oder in Museen finden kann. In Irving Penn materialisierte sich immerhin sein fotografischer Ehrgeiz. "Ich bin der Fotograf, der er gern werden wollte", hat Penn einmal gesagt, und man muss hinzufügen, dass er als Fotograf ganz offensichtlich auch der Maler blieb, der er wiederum gern geworden wäre. Seine farbigen Stillleben, die als Titelblätter der Vogue Verwendung fanden, sollen von Schwarzweiß-Stillleben des Fotografen Leslie Gill inspiriert sein, sie haben aber auch etwas von Caravaggio, manchmal erinnern sie an die Frugalität spanischer Barockstillleben, und manchmal wird auch eine Fliege drauf drapiert, wie bei den alten Niederländern, denn gerade auf dem Titel einer Modezeitschrift macht so ein Vanitas-Symbol vermutlich doppelt Spaß. Und die Porträts wiederum zeigen, dass Penn, vielleicht vermittelt durch die Mexikaner, ein Faible für Velázquez und Goya und Manet gehabt haben dürfte.

Aber diese Anspielungen an die Kunst reichten ihm offenbar nicht; er wollte mit der Kamera selber Kunst machen, dies allerdings zu einer Zeit, als Kunst und Modefotografie noch als zwei kategorial verschiedene Welten wahrgenommen wurden. Die "Nudes", die um 1950 herum entstehen, sind so ein erster Versuch des Ausbruchs aus dem Ghetto. Der Mann, der beruflich jeden Tag umgeben war von den schlankesten Fotomodellen der Welt, castete für seine Aktfotos ausschließlich fülligere Frauen; es ging ihm eher um die Archaik einer Venus von Willendorf als um das, was normalerweise von einem Dior-Kleid umhüllt wird. Aber weder Liberman wollte von dem Ergebnis irgendetwas veröffentlichen, außer einem Bild, dem harmlosesten, noch wollte Edward Streichen, der Foto-Chef am MoMA, sie zeigen. Damals steckte Penn die Bilder noch weg und wartete einfach darauf, dass diese traurig rückständige Welt eines Tages schon von selbst drauf kommt, was sie da verpasst hat. Nachdem er mit seinen freikünstlerischen Versuchen zwischen den Stühlen gelandet war, nahm er vorübergehend lieber wieder richtig Platz - auf dem Sesselchen der Mode- und Produktfotografie. Zu den Mädchen in schönen Kleidern kamen irgendwann auch Dinge wie Götterspeise, die allerdings auch erst einmal so fotografiert sein will, dass sie nach was aussieht.

Einfach nur Zigarettenreste? Nein: "Das waren Endstummel eines erschöpften Vergnügens "

Anfang der Siebziger befand sich Penn dann wirklich in einer Art Krise. Er war müde vom Glamour. Der Vogue-Chefin Diana Vreeland war Penns Stil ein bisschen zu karg geworden, sie bevorzugte inzwischen Richard Avedon. Gleichzeitig war das Format des Heftes geschrumpft und es wurde an der Qualität des Druckes gespart. Wie in einer melancholischen Geste existenziellen Kopfhängenlassens nahm Penn damals den Unrat auf den Straßen in den Blick und ließ für ein Privatprojekt seine Assistenten auf den Bürgersteigen von SoHo ausgetretene Kippen aufsammeln. Er berichtete von der unheimlichen Erkenntnis, dass diese Stummel, wenn er sie nebeneinander auf seinem Tisch aufreihte, geradezu menschlichen Charakter hatten, Persönlichkeit. Diese Stummel verhielten sich zu den frischen Zigaretten wie ausgebrannte Greise zu den jugendlichen Typen, die jeden Tag aufs neue von irgendwo her in die City gespuckt wurden. Gleichzeitig sah er auch einen Charme darin, schreibt die Kuratorin Maria Morris Hambourg im Katalog: "Das waren Endstummel eines erschöpften Vergnügens, in sich eine Million vergangener Momente enthaltend." Penn fand, dass die Stummel an der Form ihres Ausgedrücktseins zeigten, was für ein Typ der Mensch war, der sie geraucht hat, und an ihrer Marke, was für einen Geschmack und Stil er besitzt. Gleichzeitig waren sie in ihrer Anmutung antikischer Ruinen tatsächlich auch eine Art Porträt New Yorks als imperiale Stadt in einer Zerfallszeit. Anfang bis Mitte der Siebziger war New York am Boden. Vielleicht spielte das auch eine Rolle bei der Ablehnung, die er damit erfuhr. Jedenfalls kontrastierte Penn die Schäbigkeit seines Gegenstandes mit aufwendiger Technik, es sind Platindrucke höchster Güte. Die Kuratorin schreibt, dass Penn besessen war von seinen Kippen. Der reife Künstler, Penn war Mitte fünfzig, habe sich hier nun endlich den Traum des jungen Malers erfüllen können.

Es gibt Anhaltspunkte, dass die Obsession mit den Kippen auch eine moralische Note hatte: Penn selbst war nämlich Nichtraucher. Das war zu seiner Zeit und in seinem Beruf eher ungewöhnlich. Und vielleicht reflektierte er hier auch all die Zigaretten in seinen Bildern zuvor. Auf seinen frühen Modefotos kommt kaum ein Model ohne Zigarettenspitze aus, auf einem besonders berühmten Bild pflückt sich eines mit kralligen Fingernägeln Tabak von der Zungenspitze, und seine Porträtierten pusten ihm den Rauch zum Teil direkt ins Gesicht. Das Rauchen war damals ein so selbstverständlicher Teil der Kultur wie das Hütetragen. Aber nachdem sowohl Penns Vater als auch sein Mentor Brodovich früh an Krebs starben, war Penn einer der ersten, die in ihrem Büro nach rauchfreien Zonen verlangten. Mitte der Sechziger stellte er sich sogar für eine Anti-Rauchkampagne der American Cancer Society zur Verfügung. Seine Zigarettenfotos lassen sich so gesehen auch als eine Anklage an die amerikanischen Mischung aus Wegwerfkultur, zynischem Kapitalismus und schulterzuckendem Staat lesen.

Zumindest das hatte sich allerdings grundsätzlich geändert, als Penn 2009 in New York starb und ein ehemaliger Kettenraucher namens Michael Bloomberg als Bürgermeister dafür sorgte, dass er auf New Yorks Straßen kaum noch Zigarettenstummel zum Fotografieren finden würde.

Irving Penn: Centennial , Metropolitan Museum in New York, bis 30. Juli, Katalog: 70 Dollar, Info: www.metmuseum.org .

© SZ vom 13.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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