Kulturgeschichte:So weit die Vergleiche hinken

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Donald Trump hat Deutschland auf dem Nato-Gipfel beschimpft: Wir machten uns zum Gefangenen Russlands. Dass solches Gerede ins Leere läuft, weiß, wer schon mal "So weit die Füße tragen" gelesen hat.

Von Sonja Zekri

Donald Trump hat auf dem Nato-Gipfel in Brüssel behauptet, Deutschland sei ein "Gefangener Russlands." Es war eine seiner habituellen Pöbeleien, gegen die sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Verweis auf ihre Diktaturerfahrung verwahrte. Trumps Anspielung war böse gemeint und böse gesagt, und wurde auch nicht dadurch abgemildert, dass Westdeutschland im Kalten Krieg ja ein ähnlich zugetanes Verhältnis zu Amerika hatte wie der Osten zur Sowjetunion.

Die kränkende Absicht der Trump'schen Bemerkung läuft aber auch insofern ins Leere, als der russische Gefangene eine zwar tragische, aber durchaus respektierte Figur der deutsch-russischen Geschichte, zumal der Kulturgeschichte ist. Gewiss, sie lebten unter entsetzlichen Bedingungen, mehr als eine Million sowjetischer Kriegsgefangener kehrte nicht zurück, sie starben vor allem in den Kriegsjahren, als auch der Rest des Landes ums Überleben kämpfte. Aber sie hinterließen Spuren, trockneten Sümpfe aus, verlegten Eisenbahngleise, bauten Dämme und Brücken, errichteten in manchen Städten ganze Viertel. Es war eine erzwungene Leistung von einer Qualität, die vielen Russen noch immer anerkennenden Glanz ins Auge zaubert. "Aus deutscher Produktion" verlor selbst durch die Bedingung der historischen Katastrophe nichts von seiner Strahlkraft.

Aus deutscher Perspektive erfüllten die populären Darstellungen russischer Gefangener meist eine tröstliche und versöhnende Funktion, wobei es meist um die Versöhnung der Deutschen mit dem eigenen schlimmen Schicksal ging. Im Roman funktionierte die sowjetische Gefangenschaft fast wie ein Schutz vor den demoralisierenden Erkenntnissen der Nachkriegszeit. Dass der Endsieg Selbstbetrug, aber der Judenmord Realität war, ließ sich in der Literatur noch ein wenig hinausschieben. Stattdessen dominierte beispielsweise in Josef Martin Bauers Welterfolg "So weit die Füße tragen" über die dreijährige Flucht des deutschen Soldaten Clemens Forell von der Bering-Straße nach München die traditionell endlose Weite Sibiriens und exotische Begegnungen mit Pelztierjägern, mongolischen Hundezüchtern und einem armenischen Juden, zu dem der Deutsche ein herzliches Verhältnis pflegt.

1956 erschien Heinz Konsaliks Roman "Der Arzt von Stalingrad", der zehn Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess die menschlichen und professionellen Qualitäten des Lazarettarztes Fritz Böhler in allermildestem Licht erscheinen ließ. Eine russische Ärztin tadelt an einer Stelle: "Sie haben halb Russland kaputt gemacht und jetzt weinen Sie, weil Sie es wieder aufbauen müssen." Aber nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit überwog auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges die Bereitschaft, den deutschen Mediziner, der eher bei seinen Patienten in Russland bleibt, als zurück in die Heimat zu kehren, und stellvertretend mit ihm alle deutschen Funktionsträger wieder in den Kreis der Zivilisierten der Völker aufzunehmen. Das Buch verkaufte sich weltweit vier Millionen Mal und wurde mit O. E. Hasse verfilmt.

Der reale Lagerarzt von Stalingrad hieß Ottmar Kohler und war bei seiner Rückkehr aus Russland 1954 von Bundeskanzler Konrad Adenauer persönlich begrüßt worden. Niemand verschwendete umfassendere Gefühle der Reue an die sowjetischen Kriegsgefangenen, nach den Juden immerhin die größte Opfergruppe der Nazizeit, dafür wurde die Heimführung der deutschen Kriegsgefangenen Adenauers größter politischer Triumph.

Die Figur des russischen Gefangenen war, kurz, kein Ausgestoßener, verglichen beispielsweise mit jener des Heimkehrers. Wolfgang Borcherts Beckmann im Drama "Draußen vor der Tür", der aus Krieg und Gefangenschaft als gebrochener entwurzelter Mann zurückkehrte, fand bei seiner Uraufführung 1947 erschütterte Zustimmung, verschwand aber bald im Wirtschaftswunderdunst. "So weit die Füße tragen" hingegen wurde nach dem Sensationserfolg als Fernsehmehrteiler und Straßenfeger in den Fünfzigern erst vor ein paar Jahren von Hardy Martins wieder verfilmt. Der russische Gefangene bleibt als Held erhalten.

© SZ vom 13.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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