Kulturgeschichte:Licht im schwarzen Loch von Frankfurt

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Das wiedereröffnete Museum Judengasse erzählt endlich angemessen vom Leben im ältesten jüdischen Ghetto Europas.

Von Volker Breidecker

Ende des 19. Jahrhunderts war der Frankfurter Börneplatz vor der Kulisse der damals neu erbauten orthodoxen Synagoge ein belebter Marktplatz. Davon kann heute an dieser verkehrsreichsten und wohl hässlichsten Straßenkreuzung der Stadt nicht mehr die Rede sein. Nacheinander waren hier Tankstelle, Parkplatz, Blumengroßmarkthalle und ein Kolossalbau der Stadtwerke entstanden. Wer sich dennoch hierher verirrte, stand vor den dicken Mauern des postmodernen Verwaltungsgebäudes wie vor einer undurchdringlichen Wand. Fand er den richtigen Eingang, so öffnete sich dahinter seit 1992 die Zweigstelle des Jüdischen Museums, das Museum Judengasse. Es überdacht die Kellerfundamente fünf schmaler Behausungen und zweier ritueller Bäder (Mikwen) des frühneuzeitlichen jüdischen Viertels der Stadt.

Bei den Bauarbeiten für das geplante Kundenzentrum der Stadtwerke waren im Frühjahr 1987 die Ruinen von 19 Hausfundamenten ausgegraben worden. Es war eine weit über Frankfurt hinaus beachtete Sensation, handelte es sich doch um die europaweit größte archäologische Entdeckung einer jüdischen Siedlung. Was damals freigelegt wurde, war freilich nur ein Bruchteil der historischen Frankfurter Judengasse, die auf einer Länge von rund 300 Metern nach Heinrich Heines Beschreibung aus "zwei langen parallelen Reihen schwarzer, düsterer, hoher, unheimlicher Häuser" bestanden hatte.

Die Betonfraktion im Frankfurter Magistrat unter dem Oberbürgermeister Wolfram Brück (CDU) hielt dennoch an ihren Überbauungsplänen eisern fest und wollte die Grabungsstätte so rasch wie möglich zuschütten und versiegeln. Was der Publizist und Suhrkamp-Lektor Walter Boehlich in der Zeit "Das Loch von Frankfurt" nannte, markierte eine gewaltige Gedächtnislücke gegenüber der kaum aufgearbeiteten katastrophalen Verschränkung deutscher und jüdischer Vergangenheit. War doch eben erst der "Historikerstreit" um die Bedeutung von Auschwitz und der Schoah im Geschichtsbewusstsein entbrannt. "Die Frankfurter", schrieb Boehlich, "haben die Erinnerung an ihre alte jüdische Gemeinde mit einer Brutalität ausgelöscht, die kaum ihresgleichen findet." Nach dem Willen der politisch Verantwortlichen sollte es dabei auch bleiben. Selbst Frankfurts Kulturdezernent Hilmar Hoffmann hüllte sich in Schweigen.

Nicht so die nachwachsende jüdische Gemeinde, die gegen die hier exemplarisch exekutierte Politik der Vergangenheitsentsorgung aufbegehrte und die Freilegung und den Erhalt des gesamten Areals der Judengasse verlangte. Vergeblich. Der vorübergehend besetzte Bauplatz wurde mit Polizeigewalt geräumt. Eilig verrichteten die Bagger ihr Werk hinter einem flugs errichteten, drei Meter hohen, stacheldrahtbewehrten Bauzaun. Um Frankfurts Ansehen dann nicht ganz zu verspielen, machte die Stadt das Angebot, die abgeräumten Ruinen eines winzigen Abschnitts der Judengasse zu musealisieren.

Die Frankfurter Juden waren im täglichen Austausch mit ihren nichtjüdischen Mitbürgern

Erst jetzt aber sind diese im Museum Judengasse wirklich zu erfahren. Nach zweijähriger Umbauzeit feiert dieses soeben Wiedereröffnung. Als wichtigste Veränderung wurde der Eingang hinter das Gebäude verlegt, das bislang wie ein Riegel die Außenwelt abschirmte. In Nachbarschaft zum angrenzenden alten jüdischen Friedhof - dem zweitältesten Deutschlands und dem mit mehr als 2000 Grabsteinen besterhaltenen nördlich der Alpen - und dem Mahnmal mit 11 000 Namen und biografischen Daten der aus Frankfurt deportierten und ermordeten Juden entlang der Friedhofsmauern ist ein Ensemble entstanden. Dazu gehören der dem Erdboden partiell eingezeichnete Grundriss der Börneplatzsynagoge, die der Pogromnacht vom 9. November 1938 zum Opfer fiel, und ein Kubus aus aufgeschichteten Steinen. Sie stammen von den Ausgrabungen, waren aber keinen vorhandenen Fundamenten mehr zuzuordnen.

Schon im Eingangsbereich zeigt sich das neue Konzept der Ausstellung: Das Museum präsentiert sich als erinnerungspolitischer Schauplatz seiner eigenen Entstehung. Linker Hand wird das Schicksal des Orts und der Umgang der Stadt mit ihm für die Ära vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Fotos und anderen Zeugnissen dokumentiert. Darunter ist eine Wochenschau von der ersten Zusammenkunft jüdischer Überlebender 1946 vor Ort zum gemeinsamen Gedenken. Die Eingangswand selbst zeigt die Zeugnisse der Auseinandersetzungen und Kämpfe des Jahres 1987 um die gigantische Baugrube.

Präsentierte sich das Museum vor seinem Umbau als bescheidener Versuch, das vergangene, gleich zweifach mortifizierte Leben eines jüdischen Stadtquartiers in wenigen steinernen Relikten von eminenter Sprachlosigkeit zu präsentieren, so sind mit der neuen Dauerausstellung wieder authentische Zeugnisse jüdischen Lebens in die Ruinenlandschaft eingekehrt: mit Schautafeln, Modellen, Hörstationen, vor allem aber mit klug platzierten dreidimensionalen Exponaten - darunter Objekte des Ritus', Dokumente eines blühenden Bilderwesens und der Schriftkultur, aber auch ausgegrabene Gegenstände wie Keramik. So werden die zuvor noch umstrittenen und mit divergierenden Erinnerungen und Traumata aufgeladenen Steine zum Sprechen gebracht. Eine ausgetüftelte Lichtregie, die dem vormaligen Grau der Ruinen wieder die rötliche Farbe des ortstypischen Buntsandsteins entlockt, bringt die Steine der Judengasse zum Leuchten.

Was sich aus all diesen Fragmenten, Objekten und Zeugnissen zum überzeugenden Bild konturiert, entspricht aktuellen Forschungsergebnissen, wie sie das Team um Mirjam Wenzel - die neue Direktorin des Jüdischen Museums - auch im Begleitbuch präsentiert: Trotz der Pogrome, Übergriffe, Zwänge und Restriktionen, unter denen die Bewohner des 1462 eingerichteten ältesten jüdischen Ghettos Europas zu leiden hatten, genossen sie in den engen Mauern der Judengasse gleichwohl manche Schutz- und Autonomierechte. Das Ghetto war kein hermetisch abgeschlossener sozialer Raum, wie es das Stereotyp will. Die Frankfurter Juden lebten im lebendigen und täglichen Austausch mit ihren nichtjüdischen Mitbürgern. Wie Wenzel bei der Eröffnung sagte, sollte "das Leben in der Judengasse als Teil eines jüdisch-christlichen Kulturraumes verstanden werden, der durch ein vielfältiges Beziehungsgeflecht geprägt war". Im neuen Frankfurter Museum Judengasse wird man seiner ansichtig.

© SZ vom 22.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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