Küche:Papst mit Soße

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Illustration: Claudia Klein (Foto: N/A)

Schriftsteller, Ärzte, Politiker sind keine moralischen Autoritäten mehr. Diesen Job machen jetzt die Starköche.

Von  Jens-Christian Rabe

W ie würden Sie den Welthunger bekämpfen?" Das war gleich die erste Frage an den italienischen Starkoch Massimo Bottura, als ihn eine große deutsche Zeitung vor ein paar Monaten zum Gespräch bat. Bottura gilt seit einigen Jahren als einer der besten Köche der Welt. Ein Menü in einem seiner Restaurants kostet, wie in Drei-Sterne-Häusern üblich, leicht ein paar Hundert Euro. Es ist damit ein Vergnügen, dass sich auch in wohlhabenden europäischen Ländern nur die wenigsten Menschen leisten können. Im ersten Moment hatte die Frage also wirklich überhaupt keinen Sinn. Was kann einem Spitzenkoch schon einfallen gegen den Hunger in der Welt? Taubenbrust mit Rote-Beete-Saft, Rüben, Steinpilzen, Äpfeln und Trüffeln?

Im zweiten Moment ist es dann aber doch nicht mehr so abwegig, einen Starkoch als Autorität zu betrachten für eines der drängendsten moralischen Probleme des Westens. Das Misstrauen gegenüber den klassischeren moralischen Autoritäten ist ja längst unübersehbar.

Im Grunde wurden sie im Lauf der vergangenen Jahrzehnte endgültig demontiert: die Intellektuellen und Schriftsteller, die Lehrer, die Ärzte, die Wissenschaftler, die Kirchenvertreter, die Entwicklungshelfer, die Journalisten und die Politiker. Mal geschah es etwas freiwilliger, meistens eher unfreiwillig. Es kamen Missbrauchsskandale ans Licht, Urheberrechtsskandale, Fälschungsskandale, SS-Mitgliedschaften, Organspendeskandale, Steuerskandale, Bestechungsskandale, Betrugsskandale, Korruptionsskandale. Die Glaubwürdigkeit der alten Instanzen hat zweifellos schwer gelitten. Die erschreckenden Erfolge von Populisten wie Donald Trump in den USA, Marine Le Pen in Frankreich, Jarosław Kaczyński in Polen, Beppe Grillo in Italien, aber auch von Bewegungen wie Pegida und AfD in Deutschland fußt stark auf diesem Misstrauen gegen die alten Eliten.

Parallel zum Abstieg der alten Elite kam es in den westlichen Gesellschaften jedoch zum Aufstieg einer neuen, zu der tatsächlich noch aufgesehen wird. Sie besteht im Wesentlichen aus erfolgreichen Sportlern, Schauspielern, Popstars und Internetmilliardären - und Starköchen. Erstere tun sich angesichts ihres notorischen Doping-, Drogen- oder Datenhungers immer wieder schwer, den Ansprüchen gerecht zu werden, die an moralische Autoritäten gestellt werden. Blieben die Köche.

Es geht bei Nigel Slater & Co. um viel mehr als die Frage, wie man ein Ei technisch einwandfrei pochiert. Es geht ums große Ganze: das richtige Leben in einer falschen Welt

Noch vor dreißig Jahren war Kochen Rezeptkunde und allenfalls ein Akt tätiger Nächstenliebe im Kreis der Familie. In alten Bocuse-Kochbüchern finden sich neben den nüchternen Rezeptanleitungen nur sehr spärlich allgemeinere Sätze, und die lauten dann allenfalls: "Sie wissen ja, kochen soll man mit Liebe und mit Herz für alle, die man gern hat." In den Neunzigerjahren entdeckten die Kochbuchverleger den Reiz der Heimat- und Sachkunde. Bücher wie "Die echte italienische Küche", die neben den Rezepten wie ein Reiseführer von Land und Leuten berichtet, wurden Bestseller.

Mit der Rhetorik in den Büchern, Youtube-Clips und Fernsehauftritten von heute populären Köchen wie den Briten Nigel Slater, Jamie Oliver, Yotam Ottolenghi und Hugh Fearnley-Whittingstall oder dem Amerikaner Anthony Bourdain hat auch das inzwischen nichts mehr zu tun. Sie sind die Paradebeispiele für den zeitgenössischen Koch als moralische Autorität. Und als solche übrigens auch die - hierzulande bislang leider unerreichten - Vorbilder für die öffentlichen Auftritte von prominenten deutschen Köchen wie Sarah Wiener, Tim Mälzer, Vincent Klink oder Johann Lafer.

Wenn die beredten Engländer oder Amerikaner loslegen, tragen sie meist auch nicht mehr weiße Kochuniformen, sondern wirken mit ihren runden Hornbrillen und den Rollkragenpullovern eher wie muntere weise Eulen. Und schon nach zwei Sekunden ist klar, dass es ihnen um mehr geht als um die Frage, wie man ein Ei technisch einwandfrei pochiert. Um viel mehr, ums große Ganze: um die Frage nach dem guten, dem richtigen Leben in einer oft so falschen Welt.

Der sagenhaft erfolgreiche Jamie Oliver und der Bestsellerautor Anthony Bourdain liefern die Sache dabei etwas handfester. Oliver bildet in seinen "Fifteen"-Restaurants sozial benachteiligte Jugendliche aus, erstickt in einer Fernsehsendung auch schon mal Küken, um auf die Zustände in Legebatterien hinzuweisen, führt Kampagnen gegen die Fettleibigkeit an oder leierte der britischen Regierung zusätzliche 280 Millionen für die Verbesserung des Essens in Schulkantinen aus dem Ärmel. Bourdain wiederum schreibt in seinen Büchern Sätze wie diese: "In der Küche gibt es keine Lügen. Und auch keinen Gott. Er könnte einem sowieso nicht helfen. Entweder kann man ein Omelett zubereiten oder nicht. Entweder kann man mit den anderen Köchen mithalten, die bestellten Gerichte wieder und wieder perfekt zuzubereiten, oder nicht. Kein Empfehlungsschreiben, kein Ausweichmanöver, keine noch so wohlformulierten Sätze und kein jämmerliches Flehen um Gnade können über die grundlegenden Fakten hinwegtäuschen. Die Küche ist die letzte Meritokratie - eine Welt des Absoluten; am Ende jedes Tages weiß man unmissverständlich, was man geleistet hat. ,Gut' und ,Böse' werden leicht und sofort als das erkannt, was sie sind."

Slater, Ottolenghi und Fearnley-Whittingstall sind dagegen eher sanfte Moralisten, was ihre Autorität natürlich noch verstärkt. Ottolenghi etwa, ein nach London ausgewanderter israelischer Jude mit abgeschlossenem Philosophiestudium, hat mit seinem besten Freund Sami Tamimi, einem in Jerusalem geborenen und ebenfalls nach London emigrierten arabisch-stämmigen Israeli, das Kochbuch "Jerusalem" herausgebracht, eine große kulinarische Aufforderung zur Versöhnung von Juden und Arabern - und sehr beliebt in den Haushalten des westlichen Bildungsbürgertums. Nigel Slater wiederum ist die personifizierte Achtsamkeit. Es dürfte nicht leicht sein, einen Menschen auf der Welt zu finden, der ein Hühnchensandwich mit etwas gebratenem Salat mitfühlender zubereitet. Also auch mitfühlend mit dem Salat. Die ganze Erhabenheit der Schöpfung, an der es sich bitte nicht gedankenlos zu versündigen gilt, sitzt bei Nigel Slater mit am Tisch. Seinen Kräutergarten besucht er in seinen Sendungen wie einen klandestinen Ort letzter Wahrheiten.

Und dann ist da noch Hugh Fearnley-Whittingstall, der auf seiner "River Cottage"-Farm die nachhaltige Lebensmittelproduktion erforscht und zuletzt mit vollem Einsatz für die BBC einen Krieg gegen den Müll und die Verschwendung von Lebensmitteln führte, bei dem er sich mit einem der größten britischen Supermark-Konzerne anlegte.

Wobei hier kein Missverständnis aufkommen soll: Bemerkenswert ist weniger, mit welcher Begeisterung und Konsequenz die Köche ihre Rolle als moralische Autoritäten annehmen und aufführen. Bemerkenswert ist vielmehr die Selbstverständlichkeit, mit der ihnen diese Rolle auch zugestanden wird. Also die Selbstverständlichkeit, mit der Köche plötzlich ernst genommen werden, wenn sie als Propheten, Beichtväter und Sozialreformer auftreten. Oder als Ratgeber im Kampf gegen das schlechte Gewissen. Oder eben einfach als Welthungerexperten.

Dass es so weit gekommen ist, hat einige sehr gute Gründe. Das Versprechen eines besseren, des guten Lebens ist bei einem Spitzenkoch kein abstraktes Gedankenkonstrukt, es materialisiert sich ganz konkret auf dem Teller: Es schmeckt bei ihm einfach besser. Ein guter Koch ist zudem ein skrupulöser Warenkundler, der nicht nur traumwandlerisch sicher gute von schlechten Zutaten unterscheiden kann, sondern auch ein waches Auge hat für die mitunter krassen Methoden und katastrophalen Folgen der industriellen Lebensmittelproduktion. Und für den Irrsinn von Normen für das Aussehen von Gemüse und die penible Einhaltung von Mindesthaltbarkeitsfristen.

Als Agent der ewigen Verfeinerung ist der Koch zudem ganz im Sinne der Moraltheorie David Humes ein echter gesellschaftlicher Hauptdarsteller. Humes wesentliches Kriterium für den Wert einer Handlung ist es ja, ob diese für die handelnde Person oder die Gesellschaft angenehm ist oder nicht. Und nicht viele Dinge sind unmittelbarer angenehm als ein gutes Essen. Wie nur wenige können Köche also wirklich praktizieren, was sie predigen.

Wenn man außerdem davon ausgeht, dass es in den individualisierten westlichen Gesellschaften eine gewisse Sympathie gibt für den Hume'schen Gedanken, dass die Motivation zur Tugendhaftigkeit die Selbstliebe des Einzelnen ist, dann ist der moralisch ambitionierte Koch natürlich auch die Person, die am direktesten den Weg weist aus dem Käfig des Selbst. Wenn die Sorge um sich also schon politisch richtig ist, dann sind es im Zweifel auch der Kauf und die Verarbeitung eines Bioapfels.

Auf seiner dunkleren Seite ist der Koch allerdings ebenso der idealtypisch erbarmungslose Ausbeuter seiner selbst und seiner Untergebenen.

Kaum ein Beruf hat so mörderische Arbeitszeiten von früh morgens bis spät in die Nacht. Und wenige zivile Arbeitsplätze sind um der maximalen Effizienz willen so erbarmungslos hierarchisch organisiert wie die Küche eines berühmten Kochs, weil es ja nicht nur darum geht, ein Gericht einmal lecker auf den Tisch zu zaubern, sondern immer und immer wieder, in der exakt gleichen Qualität und, wenn's sein muss, auch viele Male gleichzeitig. Heute, morgen, übermorgen, die ganz nächste Woche, den ganzen nächsten Monat, das ganze nächste Jahr.

Mit anderen Worten: Unter den herrschenden strengen Forderungen an moralische Autoritäten, die nach unbedingter Identität von Leben und Botschaft verlangen, muss man schon Koch sein, um bestehen zu können. Nur sie sind bereit, für den guten Geschmack durch die Hölle zu gehen.

Die Antwort auf die Frage nach seinen Ideen für den Kampf gegen den Welthunger hätte Massimo Bottura übrigens nicht rollenbewusster geben können: Es würden jedes Jahr 1,6 Billionen Tonnen Nahrungsmittel weggeworfen. Ein erster Lösungsansatz sei deshalb, "den Menschen wieder beizubringen, statt einmal im Monat im Supermarkt Tiefkühlware einzukaufen, lieber bei lokalen Produzenten frische Ware zu besorgen". Daraus sei dann auch die Idee für die Mailänder Weltausstellung 2015 entstanden, die besten Köche der Welt in die Stadt einzuladen und sie mit den nicht verwendeten Lebensmitteln der Länderpavillons kochen zulassen. Die Idee habe er seinerzeit über den Mailänder Erzbischof auch Papst Franziskus ausrichten lassen.

Wie ein frommer Jünger klang Bottura da freilich nicht. Sondern wie ein Kollege auf Augenhöhe.

© SZ vom 20.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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