Kroatien:Der Kater erwacht

Lesezeit: 4 min

Kroatien hat die WM gefeiert wie kaum ein anderes Land. Doch welche Realität erwartet die Kroaten, wenn die Feiern vorüber sind? In welche Richtung wird der Nationalismus gehen, der gerade so euphorisch durchbricht?

Von Srećko Horvat

Man stelle sich das folgende Zukunftsszenario vor. Ein Land im Südosten Europas, das nach dem beherzten Kampf bei der Weltmeisterschaft Silber gewinnt. Zwanzig Jahre nach diesem Ereignis passt die Bevölkerung dieses Lands in eine Arena wie das Luschniki-Stadion in Moskau, in dem das Finale 2018 stattfand. Kroatien wäre zu einer Art Zoogehege geworden, eines der kleinsten Länder der Welt mit mehreren Hunderttausend Einheimischen, die alle wissen, wie man richtig gut Fußball spielt. Und dessen Land nun eine Tourismus-Hochburg mit wunderschönen Stränden ist, die als Filmset für "Game of Thrones" und "Mamma Mia" dienen.

Bei dieser fiktionalen Kurzgeschichte ist es weniger interessant sich zu fragen, wie so viele Kroaten in den nächsten 20 Jahren verschwinden könnten. Vielmehr muss man fragen, wie es möglich war, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht begriff, was da gerade passierte.

Eine mögliche Antwort auf diese Frage schrieb der deutsche Schriftsteller Elias Canetti im August 1945 in sein Tagebuch, als er einen "quälenden Gedanken" beschrieb, dass ab einem bestimmten Punkt Geschichte nicht mehr real sei und die Menschheit der Realität ohne es zu merken den Rücken zukehrte. Die Aufgabe wäre es, diesen Zeitpunkt zu finden, und solange man ihn nicht fände, wäre man gezwungen in der eigenen Zerstörung zu hausen.

Was, wenn der Juli im Jahr 2018 der Canetti'sche Zeitpunkt in Kroatiens jüngster Geschichte ist?

Nach den Feiern in Moskau kamen die Nationalspieler am neuen Flughafen in Zagreb an, der "Franjo Tudman" heißt, benannt nach dem ersten kroatischen Präsidenten, der Fußball als den besten Ersatz für Krieg instrumentalisierte. Während sie in Richtung Stadtmitte fuhren, schien es, als würde das Land für ein paar Stunden innehalten, so wie jedes Mal in den vergangenen Wochen, während Kroatien spielte. Zagreb glich einem gigantischen Stadium, mit Bengalos an jeder Ecke. Es spielte keine Rolle, ob Kroatien Weltmeister geworden war oder nicht. Es war eine kollektive Party, wie sie noch nie jemand zuvor gesehen hatte.

Tage später schmücken immer noch kroatische Flaggen die Häuser, wie seit der kroatischen Unabhängigkeit 1991 nicht mehr. Kinder tragen immer noch Trikots mit dem rot-weißen Karomuster der Flagge und den Namen von Luka Modrić oder Mario Mandžukić. Im Radio werden patriotische Songs gespielt, und jeder spricht von Fußball und Nationalstolz.

Aber wie das für gewöhnlich so ist, wenn man auf eine gute Party geht: Alles ist wunderbar, bis man am nächsten Tag aufwacht. Je besser die Party, desto schlimmer der Kater. Was passiert nun, wenn die ganze Nation nach diesem Monat voller Freude über den unglaublichen WM-Erfolg die Augen öffnet? Was passiert, wenn langsam wieder Normalität in das Leben der Kroaten einkehrt? Und was bedeutet "Normalität" für Kroatien überhaupt?

Nachdem sich die Aufregung gelegt hat, dieses einzigartige Gefühl, dass Kroatien zum ersten Mal nach langer Zeit wieder irgendwas gewonnen hat, werden die meisten Kroaten wieder ihrem Beruf nachgehen, und ein paar Glückliche werden noch genug Geld für den Sommerurlaub haben.

Laut offiziellen Statistiken der Regierung haben die Kroaten während der Weltmeisterschaft mehr Geld ausgegeben als zur Weihnachtszeit (mehr als zwei Milliarden Euro). Die Leute kauften hauptsächliche neue Fernseher, Fanartikel, Essen und Trinken, vor allem Grillfleisch. Die Cafés und die Bars waren bis in den frühen Morgen brechend voll. Man kann sich also gut vorstellen, dass die ganze Nation einen Monat lang gefeiert hat. Was die Spiele mit kroatischer Beteiligung bei der Weltmeisterschaft angeht, war es eine kollektive Achterbahn der Gefühle. Man kann sich ausmalen, was es bedeutet, am Montag nach diesem Höhepunkt in Kroatien aufzuwachen, als "der Fußball nach Hause kam".

Da momentan Sommer ist, wird das Aufwachen ein bisschen leichter fallen, oder zumindest bis zum Herbst andauern. Dann wird das endgültige Erwachen die Bevölkerung treffen wie ein vergessener Bumerang. Der Sommer ist buchstäblich der einzige Motor, der die zerstörte kroatische Wirtschaft antreibt. Der Anteil des Tourismus an Kroatiens Bruttoinlandsprodukt liegt bei zwanzig Prozent, bei Weitem der größte in Europa. Es gibt kein anderes wesentliches Einkommen, das das Land in seiner Not stützt. Stellt man sich ein Jahr ohne Sommer oder eine Saison ohne Tourismus vor, könnte man nicht mit Sicherheit sagen, dass das Land ein weiteres Jahr überstehen würde.

Nach neusten statistischen Auswertungen sind mehr als 300 000 Kroaten in den letzten Jahren ausgewandert, und in den nächsten zehn Jahren werden schätzungsweise eine Millionen weitere Menschen das Land verlassen. In Kroatien leben heute dreizehn Prozent weniger Menschen als 1990 nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Jugoslawien. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen liegen die zehn Länder, in denen die Einwohnerzahlen am stärksten rückläufig sind, alle in Osteuropa, Kroatien mit eingeschlossen.

Und da ist man wieder bei Canettis Zeitpunkt. Als der Mannschaftsbus der Nationalspieler am Montag Zagrebs Stadtmitte erreichte, war der notorische kroatische Sänger Marko Perković aka "Thompson" (benannt nach einer Waffe und aufgrund seiner Ustascha-faschistischen Liedtexte in mehreren europäischen Staaten verboten) prominenter Gast der Feierlichkeiten. Als dieser dann sogar zum Höhepunkt der Veranstaltung auftrat, ist die eigentliche Frage weniger, ob der kroatische Sport mal wieder für nationalistische Politik instrumentalisiert wird (denn natürlich ist das der Fall).

Vielmehr muss man sich fragen, wie es möglich ist, dass die Bevölkerung weiter schlafwandelt, anstatt aufzuwachen. Wie ist es möglich, dass dieser sportliche Erfolg und das Gefühl des Zusammenhalts nicht in eine Kampfansage umgewandelt wird gegen die politischen Eliten (repräsentiert durch Thompson), die ein Land zerstört und es seiner Infrastruktur, seiner Industrie, seiner Zukunft beraubt haben?

Und nicht zuletzt stellt sich die Frage: Ist es möglich, Fußball zu mögen und sagenhaft glücklich zu sein, weil Kroatien das Finale der Weltmeisterschaft erreicht hat, sich aber gleichzeitig gegen die Massenhysterie und die nationalistische Brandmarkung des sportlichen Erfolgs zu stellen, die von Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović bis hin zu Marko Perković aka "Thompson" betrieben wird? Die Antwort darauf, sofern man aus Cannetis "quälendem Gedanken", der bösartigen historischen Schleife, ausbrechen will, kann nur so lauten: Man muss sich weigern, seinen Patriotismus - und seine Freude - an die nationalistischen Rechte zu verlieren. Nicht nur in Kroatien, sondern in ganz Europa.

Srećko Horvat ist Philosoph und Mitbegründer des Democracy in Europe Movement. Aus dem Englischen von Kim Maurus.

© SZ vom 18.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: