Kommentar:Unzuverlässige Vernunft

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Lothar Müller liest gerne die Geheimbundromane der Aufklärung. (Foto: SZ)

Verschwörungs­theorien appellieren nicht an Glauben.

Von Lothar Müller

Ostwestfalen hat eine große Tradition an Spukgeschichten hervorgebracht. Und sehr nüchterne Menschen wie den amtierenden Bundespräsidenten. Als Frank-Walter Steinmeier an diesem Freitag in der Klosteranlage im ostwestfälischen Dalheim die Ausstellung "Verschwörungstheorien früher und heute" eröffnete, ließ er einem kleinen Loblied auf die ländliche Region, der er entstammt, eine große, grundsätzliche Warnung vor den grassierenden "alternativen Wahrheiten", den "Fake News" und Verschwörungstheorien folgen. Nicht aus Neugier auf Kurioses sei er angereist, sondern aus Interesse an der Demokratie. Und aus Sorge um sie. Der Schauplatz der Ausstellung, ein altes Kloster, erinnere daran, dass der Glaube an Verschwörungen lange Zeit vor allem religiös begründet gewesen sei. Es sei in den modernen Gesellschaften zwar der Teufelsglaube weniger verbreitet als früher, nicht aber der Glaube an dunkle Mächte, die im Geheimen herrschen, oder an "die Theorie, dass sich die sogenannten Eliten und Medien gegen das Volk verschwören". Der aktuelle Erfolg von Verschwörungstheorien sei ein Symptom für die Krise der demokratischen Gesellschaften.

Die Sorge ist nicht neu. Und sie ist berechtigt. Ihre treue Begleiterin ist die Hoffnung auf die Kraft der Aufklärung, die Kraft der Vernunft. Auch der Bundespräsident hegt diese Hoffnung. Und er verknüpft sie unmittelbar mit der politischen Ordnung, die er repräsentiert: "Wie keine andere Staatsform gründet die Demokratie auf der Vernunft." Er bekräftigt damit aber nicht nur die Hoffnung auf die Vernunft, sondern formuliert auch ihr Dilemma. Denn in ihren normativen Grundlagen mag sich eine parlamentarische Demokratie auf die Vernunft berufen, in ihrem Alltag aber beruht sie auf dem Kampf um wechselnde Mehrheiten, der Intrigen und geheime Absprachen einschließt. Trotz der gläsernen Reichstagskuppel ist die Demokratie nicht nur mit der Transparenz, sondern ebenso sehr mit dem Undurchschaubaren verbunden. Gerade der faktenbasierte Journalismus lebte lange von der Suggestion, die Geheimnisse der berühmten "Hinterzimmer" zu lüften.

Verschwörungstheorien sind vertrackte Projekte. Sie appellieren gerade nicht an den Glauben, sondern an die Rationalität. Sie wollen Erklärung sein, nicht Bekenntnis. Der Bundespräsident glaubt, auf der sicheren Seite zu sein, wenn er Demokratie mit Vernunft, "Fake News" mit Unvernunft und Aufklärung mit Öffentlichkeit identifiziert. Mit Vernunft allein ließ sich schon gegen die Gespenster wenig ausrichten. Eine sehr aufgeklärte französische Aristokratin bekannte: "Ich glaube nicht an Gespenster, aber ich habe Angst vor ihnen." Darum bedarf der Satz des Bundespräsidenten der Ergänzung: Der Demokratie ist in der Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien mit Appellen an die Vernunft nur dann geholfen, wenn sie weiß, dass sie sich auf die Vernunft nicht verlassen kann.

© SZ vom 18.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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