Kolonialismus:Mit Kreuz und Krone

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Mexikos Präsident fordert, dass sich die ehemalige Kolonialmacht Spanien für die Schrecken der Eroberung Lateinamerikas entschuldigt.

Von Thomas Urban

Die spanischen Historiker, die sich mit der Kolonisierung Lateinamerikas befassen, wissen ihr Glück kaum zu fassen: Eine große politische Kontroverse ist über ihr Fachgebiet ausgebrochen, in der Presse und auf allen Fernsehkanälen ist ihr Expertenwissen gefragt. Denn das Thema ist Streitpunkt im Wahlkampf geworden: Am letzten Sonntag im April haben die Spanier ein neues Parlament zu bestimmen.

Ausgelöst hat die Kontroverse der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador, ein selbstbewusster Vertreter der neuen Linken in Lateinamerika. In einem Brief und in einer Videobotschaft forderte er vom spanischen König Felipe VI. und von Papst Franziskus eine Bitte um Verzeihung für die Gräuel, die die Spanier bei der Eroberung Mittelamerikas im Namen der Krone und der Kirche begangen hatten. Das Video hat er vor den Ruinen der Maya-Stadt Comalcalco drehen lassen. Obrador erklärte darin: "Die sogenannte Eroberung erfolgte mit dem Schwert und dem Kreuz." Ein Großteil der Ureinwohner habe damals einen gewaltsamen Tod gefunden, die Überlebenden seien versklavt worden. Gleichzeitig rief er Madrid dazu auf, den 500. Jahrestag des Falls der Azteken-Hauptstadt Tenochtitlan, der 2021 begangen wird, zum Anlass für eine große "Feier der Versöhnung" zu nehmen. Im selben Jahr gedenkt Mexiko indes auch der Erlangung der Unabhängigkeit von Spanien vor genau zwei Jahrhunderten, die für Madrid den Verlust seiner reichsten Kolonie bedeutete und einen weiteren Meilenstein beim Untergang des spanischen Imperiums markierte.

Die Forderung freut auch die Parteien aus dem rechten Spektrum

Der Vorstoß Obradors traf allerdings den spanischen Premierminister Pedro Sánchez in einem ungünstigen Moment. Der Führer der spanischen Sozialisten, der in Obrador einen politischen Verbündeten sieht, kämpft darum, bei den bevorstehenden Parlamentswahlen im Amt bestätigt zu werden. Doch Obrador hat mit seiner Forderung nicht nur die spanischen Historiker erfreut, sondern auch die Parteien des rechten politischen Spektrums. Sie nutzen nämlich die Gelegenheit, sich als Verteidiger der Ehre der spanischen Nation zu profilieren. Es ist das dritte große historische Thema, mit dem sie zu punkten hoffen, neben dem Streit um Katalonien, bei dem sich die Separatisten auf eine Leidensgeschichte unter spanischer Herrschaft berufen, sowie der Kampagne um die "Heimholung Gibraltars", das in den Wirren des Spanischen Erbfolgekriegs vor drei Jahrhunderten an die Briten abgetreten werden musste.

Zwar haben spanische Historiker, Romanautoren und Filmemacher die grausamen Seiten der Conquista ausführlich dargestellt, doch die staatliche Geschichtspolitik hat das unbequeme Thema stets umschifft; auch die Schulbücher behandeln es nur marginal. Stattdessen wurde die "spanischsprachige Völkerfamilie" bei jeder offiziellen Gelegenheit gefeiert, wobei sich die Spanier stets in der Rolle der Mutternation sahen und nicht ohne Hochmut auf die ehemaligen Kolonien herabblickten. Die öffentlichen Fernsehkanäle strahlten in diesem Sinne eine Fülle von Dokumentationen über das spanische Kulturerbe in Lateinamerika aus. So war es ein Schock für die spanischen Politiker und Medien, als ausgerechnet die damalige Regierung von Mexiko im Krisenjahr 2012 Madrid einen Milliardenkredit zur Überwindung der Rezession anbot.

Doch die Krisenstimmung ist längst vorbei, in Madrid ist man wieder selbstbewusst, wobei die sozialistische Regierung angesichts ihrer Sympathien für Obrador sehr zurückhaltend reagiert. "Was damals geschah, kann nicht mit heutigen Maßstäben gemessen werden", teilte die Regierungssprecherin lapidar mit und setzte einen versöhnlichen Akzent: "Stets haben es unsere Brüdervölker vermocht, in unsere gemeinsame Geschichte ohne Zorn und in konstruktivem Geist zurückzublicken, als freie Völker mit einem gemeinsamen Erbe." Präziser wurde der für seine scharfen Repliken bekannte Außenminister Josep Borrell, der frühere Präsident des Europa-Parlaments: Obradors Erklärung sei "aus der Zeit gefallen". Schließlich komme ja auch in Madrid niemand auf die Idee, von Frankreich Entschädigung wegen der Invasion Napoleons zu verlangen; dessen Truppen waren brandschatzend durch Spanien gezogen. Im Übrigen seien die Nachkommen der meisten Spanier von damals heute Bürger Mexikos.

Die rechte Opposition aber überbot sich, schon ganz im Wahlkampfmodus, mit Attacken auf Obrador. Besonders dankbar nahm der junge Chef der konservativen Volkspartei (PP), Pablo Casado, die Vorlage aus Mexiko auf, um die Hispanidad, den "Geist des Spaniertums", zu verteidigen. Die Conquista sei, neben dem Römischen Reich, "eine der brillantesten Epochen der Menschheitsgeschichte", auf die alle Spanier stolz sein könnten, erklärte er. Casados gemäßigter Vorgänger an der Parteispitze, Mariano Rajoy, hatte die PP ein kräftiges Stück zur Mitte gerückt. Casado ist dabei, die Partei wieder auf stramm nationalpatriotischen Kurs zu bringen. Wiederholt hat er sich gegen die "schwarze Legende" der Linken gewandt, nach der Spanien den Ureinwohnern Lateinamerikas nur Seuchen und Versklavung gebracht und sie überdies ausgeplündert habe. Der Chef der rechtsliberalen Bürgerpartei (Ciudadanos), Albert Rivera, empörte sich über die "Beleidigung der spanischen Nation" durch Obrador, während der Vorsitzende der nationalistischen Partei Vox, Santiago Abascal, eine Gegenforderung stellte: Die Mexikaner sollten sich gefälligst bedanken, dass die Spanier ihnen Kultur gebracht hätten.

Die konservative und nationalistische Presse wird nicht müde, vor allem angloamerikanische Historiker zu zitieren, die auf die grausamen Kämpfe unter den Völkern Mittel- und Südamerikas in der vorkolumbianischen Zeit hinweisen. Diese hätten sich gegenseitig abgeschlachtet, es habe unter ihnen sogar Kannibalen gegeben, während die spanische Elite zu dieser Zeit die Werke Dantes und Petrarcas kennengelernt habe, hieß es in einem Kommentar. Die konservative Tageszeitung El Mundo meinte ironisch, der mexikanische Präsident fordere eine Entschuldigung, weil Spanien im 16. Jahrhundert die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 verletzt habe.

Manche Historiker führen unter Berufung ausgerechnet auf mexikanische Experten auch nüchterne Analysen an: Die auf Ackerbau und Viehzucht beruhende Agrarwirtschaft im unabhängig gewordenen Mexiko habe zu einer brutalen Landnahme ungeahnten Ausmaßes geführt und somit die indigenen Völker in weitaus höherem Maße dezimiert, als dies unter spanischer Herrschaft der Fall gewesen sei. Dieser Argumentation schloss sich auch der aus Peru stammende und in Madrid lebende Literaturnobelpreisträger Maria Vargas Llosa an, der den spanischen Konservativen nahesteht. Er befand, die Mexikaner sollten erst einmal selbst die düsteren Seiten ihrer Geschichte aufarbeiten und kam zum Schluss: "Obrador hat sich im Adressaten der Botschaft geirrt. Er hätte den Brief sich selbst schicken sollen."

© SZ vom 03.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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