Klassikkolumne:Spanische Töne

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Jede Musikrichtung hat ihre Klassiker - auch der Flamenco. Einer ihrer einflussreichsten Vertreter war der 1983 gestorbene Antonio Mairena.

Von Reinhard J. Brembeck

Eigentlich ist die Anmaßung riesig, die allein schon in der selbst gewählten Bezeichnung steckt: klassische Musik. Wird doch damit alles, was auch nur entfernt wie Bach und Beethoven klingt, als "klassisch" verklärt, also als Maßstäbe setzend und in sich stimmig. Ganz egal, ob die betreffenden Stücke aus dem Mittelalter und von Guillaume de Machaut oder aus der Moderne und von Helmut Lachenmann stammen. Auch andere Musikstile kennen Klassiker, oft sind das nicht die Komponisten, sondern die Interpreten. Die Trennung zwischen Komposition und Aufführung ist ein spezielles Phänomen der Klassik. So steht der Sänger Carlos Gardel für den Tango, Amália Rodrigues für den Fado oder Munîr Bashîr, der Großmeister der Laute Ud, für die arabische Musik. Sie alle waren Klassiker.

Der Flamenco ist vor allem als Touristenspektakel populär, mit viel Tanz in bunten Rüschenkostümen und Gitarrengehacke. Es gibt aber auch eine ausnehmend puristische und überhaupt nicht als Touristenspektakel taugliche Spielart dieser Musik, in der ein Sänger dominiert, der von einem Gitarristen und von einigen Co-Musikern begleitet wird, die nichts anderes tun, als den Sänger anzufeuern und die teils komplizierten Rhythmen zu klatschen.

Der größte Klassiker des Flamenco nach dem spanischen Bürgerkrieg war der Sänger Antonio Mairena (1909-1983). Mairena betrieb die Wiederbelebung des schon damals zum Spektakel verkommenen Flamenco, er sang viele fast oder ganz vergessene Stile, er war ein strenger Purist. Vor allem aber war er ein Sänger, der die größte Kunst des Flamenco beherrschte: sich singend in den Schmerz hineinzuwühlen und ihn in jener Intensität auszuleben, dass es für den Musiker wie fürs Publikum kaum mehr erträglich ist. So stellte sich Don Antonio in eine Tradition mit den Größten der Großen, mit Antonio Chacón, Manuel Torre, Tomás Pavón, den Utrera-Schwestern.

Nach Antonio Mairena aber zog es den Flamenco auf die Bühnen der Welt. Der kürzlich gestorbene Megagitarrist Paco de Lucía eroberte Konzertsäle, während der Gesang von seinem früheren Compagnon Camerón de la Isla okkupiert wurde. Seit dessen Tod 1992 hat sich die Szene wieder abgekühlt, der hemmungslose Run auf den mittlerweile auch in die Stockgehjahre gekommenen Pop ist abgeflaut, und mittlerweile findet eine wunderliche Rückbesinnung auf die klassischen Formen des Flamenco statt, deren jüngster und gewaltigster Vertreter José Valencia heißt.

José Valencia ist 40 Jahre alt, in Barcelona geboren, die Familie stammt aber aus Lebrija, aus Andalusien, wo der Flamenco nach wie vor daheim ist. Letztes Jahr gab José ein preisgekröntes Konzert beim berühmtesten aller Flamenco-Festivals, der Biennale in Sevilla. Und jetzt ist dieses Konzert als CD & DVD sowie online erschienen, heißt schlicht "Directo", also live, und ist eine kleine Sensation. Denn José macht nichts anderes, als dass er das Erbe Antonio Mairenas antritt. Auf der Bühne sind nur er, zwei Gitarristen und drei klatschende und anfeuernde Männer, ihnen genügen ein paar Stühle, ein Tisch - und jeder trägt Microports. So können sie sich frei im Raum bewegen und das Pathos des Flamenco kann endlich wieder hemmungslos schwingen. Josés Stimme verbeißt sich immer tiefer in den Schmerz, sie schleudert das Leid der Menschen ins Publikum, sie bannt durch Entsetzen.

Allerdings wollte keine der großen Plattenfirmen dieses grandiose Projekt auf den Markt bringen. Flamenco ließe sich nicht verkaufen, weshalb José die Produktion ganz allein stemmte. Aber derzeit hat der Spanienbesucher überhaupt den Eindruck, dass nur noch die dümmste Form des Tourismus funktioniert. Sogar Madrid wird von der aus Íbiza vertrauten Form des öffentlichen Saufens und Krakeelens heimgesucht. Davon ist auch die vom Opernhaus zum zentralen Platz führende Calle Arenal nicht ausgeschlossen, einst verkehrsdurchtobt, heute verkehrsberuhigte Einkaufsstraße mit den internationalen Handelsketten. Hier steht aber auch die Kirche San Ginés, wo viele der Größen des spanischen "Goldenen Zeitalters", des 17. Jahrhundert, getauft, beerdigt, ausgesegnet, verheiratet wurden: Victoria, Lope, Calderón und José Hidalgo (1614-1685).

Letzterer war der einflussreichste Hofkomponist seiner Zeit, zusammen mit Calderón hat er viele Bühnenstücke produziert. José Hidalgo ist also ein Klassiker, von dem aber selbst die Großmeister der historischen Aufführungspraxis fast nichts wissen wollten. In diese Lücke stößt der junge Gambist und Ensembleleiter Fahmi Alqhai zusammen mit dem hinreißenden Sänger Juan Sancho mit ihrer CD " Cantar de Amor" (Glossa). Sie haben sich gerade in die schlichten, aber tiefzielenden Lieder Hidalgos verliebt, sie stellen sie in dessen Umfeld - und der staunende Zuhörer erlebt ein fulminantes Madrid abseits der Touristenströme.

© SZ vom 30.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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