Klassikkolumne:Ende der Walzerseligkeit

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Der französische Pianist Lucas Debargue zählt zu den jungen Interpreten, die unter dem Label des genialischen Sonderlings vermarktet werden. Mit seinem dritten Solo-Album beweist er, dass er auch musikalischen Weitblick besitzt.

Von Julia Spinola

(Foto: N/A)

In keiner anderen Kunstform sind die scheinbar gegensätzlichen Pole von Struktur und Emotion so nahtlos aneinander gebunden wie in der Musik, diesem flüchtigen, nur aus Schall und Zeit bestehenden Mysterium. Für den Interpreten ergibt sich daraus die große Anforderung, die Imperative der Partitur mit denen des eigenen Ausdrucksempfindens in Balance zu bringen. Der eigenen Stimme zu folgen, ohne sich dem Hype eines nach Sensationen gierenden Plattenmarktes zu überantworten, der einen sogenannten Ausnahmekünstler nach dem anderen in die Arena hetzt. Der französische Pianist Lucas Debargue zählt ebenso wie der griechische Dirigent Teodor Currentzis zu jenen jungen Interpreten, die unter dem Label des genialischen Sonderlings vermarktet werden. Da liegen überschwängliches Lob und vernichtende Kritik stets nah beieinander. Beim Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb zerstritt sich vor zwei Jahren die Jury über Debargue, der als Autodidakt begonnen hatte und zwischendurch auch als Bassist in einer Rockband gespielt hat. Der russische Pianist Boris Beresowski bezeichnete ihn als Genie, sein Jury-Kollege Michel Béroff sprach ihm die nötige Professionalität ab. Spätestens mit seinem dritten Solo-Album beweist Debargue jetzt aber, dass er nicht nur über ein genialisch-originelles Talent verfügt, sondern auch genügend musikalischen Weitblick und künstlerische Integrität besitzt, um in sich stimmige, hoch nuancierte und ausgearbeitete Interpretationen zu formen. Stark voneinander abgesetzte Motive, ein recht gedehntes Tempo und kontrastreiche Dynamik lassen den Kopfsatz von Schuberts A-Dur-Sonate D 784 noch verhangener, brüchiger, nach innen gewandter und erratischer klingen, als man ihn kennt. In dem so eröffneten inneren Raum lässt Debargue behutsam, traumgleich und entrückt das verwunschene Geschehen des Mittelsatzes spielen und wendet das Allegro vivace des Schlusssatzes kurzerhand in ein gläsern perlendes, berückend irrlichterndes Presto. So persönlich er die Musik mit dezidiertem Ausdruckswillen färbt, gleitet er doch nie ins Manierierte oder Gefühlige ab. Auch in der seltener gespielten früheren A-Dur-Sonate D 664 lässt er der musikalischen Entwicklung ihren Raum, folgt den häufigen Dur-Moll-Umschwüngen voller Natürlichkeit, ohne Forcierungen. Mit seiner auch technisch fulminanten Interpretation der unbekannten 2. Klaviersonate von Karol Szymanowski gelingt ihm das Kunststück, Spontaneität und sprechende Verbindlichkeit in der scheinbar wild wuchernden, unbändigen Überfülle an Gestalten walten zu lassen, die Szymanowski hier wie im Rausch komponiert hat. Die Variationenfolge des zweiten Satzes scheint die gesamte Musikgeschichte zu inhalieren. Der Impulsreichtum mündet in eine fast manische Finalfuge, die klingt als solle die anstürmende Gedankenflucht durch einen Rest verbindlicher polyphoner Struktur gebändigt werden. Frappierend ist die Nähe zu Alban Bergs zwei Jahre früher entstandener Klaviersonate op.1 bis in konkrete Wendungen hinein.

(Foto: N/A)

Dass Debargue sein künstlerisches Ego durchaus in den Dienst eines musikalischen Ziels zu stellen weiß, zeigt auch seine Mitwirkung als Kammermusikpartner in der neuesten Aufnahme von Olivier Messiaens jenseitssüchtigem Quartuor pour la Fin du Temps - einer der besten Interpretationen dieses Werks überhaupt. Komponiert 1941 in einem Kriegsgefangenlager in Görlitz, bewegt sich diese Musik am Rande des Abgrunds und berührt doch - der Kraft des tiefen religiösen Glaubens von Messiaen sei Dank - das Sublime. So überirdisch schön jedenfalls wie in dieser Aufnahme, zu der neben Debargue noch der Klarinettist Martin Fröst, der Cellist Torleif Thedéen und die betörend süß auf ihrer Violine singenden Janine Jansen beitragen, hat die Apokalypse wohl noch nie geklungen.

(Foto: N/A)

Gegen die messiaen'schen Sphären mit ihrer tröstenden Schwerelosigkeit und ihrer elevatorischen Süße, kann der ganz weltliche Abgrund von Tschaikowskys Pathétique-Symphonie sogar wie die leibhaftige Hölle klingen. Dies vermittelt jedenfalls der vollständig schonungslose und rückhaltlose Blick, den Teodor Currentzis mit seinem Musica Eterna Orchester auf das Werk wirft. Currentzis wählt nicht den Weg der Entromantisierung und strengen Analytik, um Tschaikowsky vom Klischeeverdacht der Sentimentalität zu befreien. Er geht den umgekehrten Weg einer dramatischen Überhitzung, schlägt einen geradezu blutigen Ernst aus den Katastrophen dieser Musik und entfacht auf dem Höhepunkt des Kopfsatzes ein Entsetzen, gegen das die Höllenfahrt von Berlioz' Faust wie ein Spaziergang erscheint. Keiner Walzerseligkeit ist danach mehr ungetrübt zu trauen. Eine atemberaubende Aufnahme.

© SZ vom 14.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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