Klassikkolumne:Annus horribilis

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1913 wurde der "Sacre du printemps" uraufgeführt, mit dem Igor Strawinsky die Romantik k.o. schlug. Zwei Neuaufnahmen präsentieren dieses k.o in Nahaufnahme.

Von Julia Spinola

(Foto: Label)

Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja ist das Kind moldauischer Eltern, einer Geigerin und eines Zymbalspielers. Sie spielt am liebsten barfuß und wirft sich mit einer elektrisierenden Unbedingtheit in die Musik. So führt sie Maurice Ravels "Tzigane" mit ihrem furios ausdruckssatten, jedoch nie überzeichnendem Spiel auf dessen folkloristische Wurzeln zurück. Ihr gelingt ein halsbrecherischer Drahtseilakt zwischen Zartheit, derber Erotik und entfesseltem Tanz. Ihre Klavierpartnerin Polina Leschenko ist kein erdender Gegenpol, sondern eine ähnlich besessene Geistesverwandte. Feurig, rau und trocken sekundiert sie die derwischartigen Kapriolen der Violine im zweiten Satz von Béla Bartóks 2. Violinsonate. So stürzen sich die Musikerinnen auch in die Violinsonate von Francis Poulenc, die zwischen Tragik, parodistischen Pathos und Jazz-Zitaten hin- und herschlittert. Der Mittelsatz gerät zu einer wehmütigen Tagträumerei mit sanft zwitschernden Geigentönen über mild schimmernden Klavierfigurationen. Umso größer wirkt der Kontrast zur lustvoll ausgespielten Exzentrik der aufsässigen Rahmensätze. (Alpha)

(Foto: Label)

Als Duo gefunden haben sich auch zwei Pianisten mit völlig unterschiedlichen Temperamenten. Marc-André Hamelin ist als Hypervirtuose berühmt, dem nichts zu schwer ist. Den zehn Jahre jüngeren Leif Ove Andsnes kennt man eher als Lyriker des Klaviers. Gemeinsam haben sie ihr im Konzert erprobtes Strawinsky-Programm eingespielt, das vom 1913 uraufgeführten "Le Sacre du Printemps" über das Konzert für zwei Klaviere bis zum "Tango" und zur "Zirkus Polka" der vierziger Jahre reicht. Mit ihrer leichtfüßigen und voller Witz steckenden Interpretation des selten gespielten Konzerts für zwei Klaviere beweisen Hamelin und Andsnes auf befreiende Weise, was es für ein Missverständnis ist, Strawinsky ernsthaft in die Schublade des Neoklassizisten stecken zu wollen. Die vermeintliche Wiedererrichtung klassizistischer Formschemata sprengt der freiheitliche Esprit des Stückes in beinahe jedem Takt. Strawinskys "Sacre" erklingt in Strawinskys früher vierhändiger Fassung, jedoch auf zwei Flügeln. Hochkontrolliert und technisch brillant gespielt, erlaubt sie einen Blick auf die strukturelle Essenz der monströsen Partitur. Zugleich wird alles andere als eine trockene Studie daraus. Die Pianisten treiben den Klang ihrer Flügel in gestochener, federnder Rhythmik mit meist gläsern klarem Anschlag zu farbexplosiven Höhepunkten. Die atavistisch stampfenden Brutalismen der "Dance Sacrale" am Ende des Stücks klingen in dieser kristallinen Klarheit härter und nackter als in jeder Orchestereinspielung. (hyperion)

(Foto: OH)

Die "Sacre"-Aufnahme, die der junge polnische Dirigent Krzysztof Urbanski mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester vorlegt, hat es freilich auch in sich. Urbanski ist seit 2015 Erster Gastdirigent des Orchesters. Er vergleicht Strawinskys "Sacre" gern mit Heavy-Metal-Stücken. Entsprechend betont er in seiner Interpretation eher das Mechanistische als das Dumpf-Kreatürliche der Musik. Der Orchesterklang ist schneidend. Er kann ganze Metallwerke zum Einstürzen bringen und sich in den brachialen Attacken der "Jeux des cités rivales" zur kalten Killermaschinerie aufspreizen. Nach diesen Exzessen klingt die Einleitung zum zweiten Teil des Werks gespenstisch flirrend, wie die verstrahlte Atmosphäre nach einem Atomschlag. Die Tempi wirken an manchmal zu starr. Insgesamt ist es jedoch eine überzeugende Lesart, die das Stück in die Dystopie einer post-humanen Ära versetzt. (Alpha)

(Foto: Label)

Sergej Rachmaninows Chorsymphonie "Die Glocken" für Orchester, Chor und drei Gesangssolisten entstand im Jahr der "Sacre"-Uraufführung, spielt aber musikalisch noch in der alten Welt. Literarische Vorlage ist die russische Nachdichtung eines der berühmtesten Gedichte von Edgar Allen Poe. Der Klang unterschiedlicher Glocken steht in den vier Sätzen metaphorisch für den Lebenszyklus des Menschen: von den Schlittenglöckchen der Kindheit bis zur eisernen Todesglocke im letzten Satz. Mariss Jansons atemberaubende Interpretation mit Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks sowie fabelhaften, muttersprachlichen Solisten lässt das harmonische Raffinement und den todesnah-abgründigen Ausdruck dieses Werk zur Geltung kommen. Mit seiner bis ins kleinste Detail geschliffenen, zugleich mitreißend expressiven Interpretation der Symphonischen Tänze op. 45 übertrifft Jansons noch seine ältere Aufnahme mit den Sankt Petersburger Philharmonikern. (BR)

© SZ vom 20.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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