Klassik:Von ein paar Takten Nuklearmusik geht die Welt nicht unter

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Autohupe mit Spitzenorchester und Chorbegleitung: Simon Rattle und Peter Sellars bringen in Berlin György Ligetis intellektuelle Opernfarce "Le Grand Macabre" auf den Punkt.

Von Wolfgang Schreiber

Schon die Ouvertüre ist nicht geheuer: Das Orchester bleibt stumm, nur zwölf Autohupen lässt György Ligeti strukturiert tröten - die Parodie auf eine barocke Eingangstoccata. Wollte er eine avantgardistische Opernvision zeigen oder nur eine freche Operette? Weder das eine noch das andere. Ligeti, einer der scharfsinnigsten Komponisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat eine durch und durch vulgäre, aber auch virtuose Groteske über die Menschheit geschaffen. Seine Frage nach dem "Grand Macabre", womit er eine "Anti-Anti-Oper" zu erfinden vorgab, provoziert noch immer Antworten, auch vier Jahrzehnte nach der Stockholmer Uraufführung. Denn verschwunden ist das Stück nicht von den Bildflächen der Opernhäuser und Festivals. Peter Sellars zum Beispiel politisierte es 1997 bei den Salzburger Festspielen spektakulär, und der Komponist war darüber nicht erfreut.

Achtung Atommüll - die Künstler agieren unter Verseuchungsgefahr

Nun machten sich die Berliner Philharmoniker und Simon Rattle daran, Ligetis überhitzte Opernshow aufs Konzertpodium zu hieven. Sie baten denselben Peter Sellars, das Werk halbszenisch zu interpretieren und mit Bildern zu versehen - was ziemlich schwer ist. Das dem Schauspiel "La balade du Grand Macabre" des Belgiers Michel de Ghelderode abgelauschte Stück absurden Theaters erscheint als hirnverbrannte Weltuntergangsparabel "in keinem bestimmten Jahrhundert", ein mit schrillen Kopfgeburten bevölkertes, in einem märchenhaften Breughelland angesiedeltes Spektakel menschlicher Monstrositäten - ein Jüngstes Gericht. Sellars konkretisiert das ähnlich wie damals in Salzburg und schmälert die philosophische Perspektive, indem er das Podium mit Anti-Atompropaganda drapiert, sichtbar gemacht mit den Batterien gelber Atommüllfässer. Auf Monitoren erscheint dazu die politische Direktive: das Logo des Nuclear Energy Summit, des alle zwei Jahre stattfindenden Sicherheitsgipfels gegen die Weiterverbreitung nuklearen Sprengmaterials. Die Darsteller tragen - zu ihrer Sicherheit - Schutzanzüge und weiße Kittel, sie agieren unter akuter Verseuchungsgefahr...

Besser als hier kann Ligetis Oper nicht gesungen und athletischer nicht gespielt werden: Der Tod selbst, der demagogische Nekrotzar, den Pavlo Hunka imposant verzerrt spielt, verkündet das Ende der Menschheit. Doch die Menschen in ihren absurdesten, banalsten Varianten "unpsychologischer" Machart, mit albernen Namen, übertrumpfen ihre Ängste mit gruseligsten Attitüden. Es gibt den besoffenen Piet vom Fass, den der Tenor Peter Hoare gellend verkörpert. Es trällern melodisch selig Anna Prohaska und Ronnita Miller das Liebespaar Amanda und Amando, und der Hofastrologe Astradamos und seine Sadistin Mescalina werden von Frode Olsen und Heidi Melton mit apokalyptischer Wolllust ausstaffiert.

Brillant bestückt ist die Staatsspitze von Breughelland mit Fürst Go-Go und der Geheimpolizei-Chefin Gepopo, denen der Countertenor Anthony Roth Costanzo und die in Koloratur und Sopranhöhe schwindelfreie Audrey Luna reine Akrobatik verordnen. Fäkalsprache und viele andere Obszönitäten machen einen manchmal atemlos und der Schweinereien überdrüssig.

Das Triviale und die Tonkunst sind hier abenteuerlich verwoben

Hohen Unterhaltungswert hat diese Raumbespielung im Konzertsaal jedenfalls: Bläsersolisten und die Choristen in Gruppen oder Massen werden durch die "Weinberg"-Segmente der Berliner Philharmonie gejagt, die Sänger des Berliner Rundfunkchors unter Gijs Leenaars bewältigen die Szenen mit dem Elan von Vokalsportlern. Simon Rattle und seine Philharmoniker bringen die rhythmischen, die klanglichen Eruptionen aus Bläserschneid und Perkussionswucht mit größter Prägnanz auf den Punkt. Das tönende Grimassieren ist der Lebensnerv dieser Operneskapade, einer maßlos elaborierten Orchesterkunst. Das Wunder der Partitur besteht ja darin, dass Ligeti hier die kalauernde Trivialität und die höchste Tonkonstruktivität, die pralle Sinnlichkeit und die surrealistische Farce ebenso abenteuerlich wie komplex und gelenkig miteinander verbunden und musikalisiert hat. Emphatischer, präziser als hier ist das vielleicht noch nicht realisiert worden.

Am Ende geht die Welt in Breughelland doch nicht unter. Das Finale dockt im Stil eines mittelalterlichen Totentanzes an einen alten, ironisch moralisierenden Knittelvers an, während auf einem Videofilm eine schwanzwedelnde Kuh gezeigt wird - und alle singen: "Fürchtet den Tod nicht, gute Leut'! Irgendwann kommt er, doch nicht heut'!"

© SZ vom 21.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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