Klassik in Corona-Zeiten:Die Grenze des Menschenmöglichen

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Mit der Pandemie leben, auch in der Klassik, ja, nach der Durststrecke der letzten Monate, gerade hier: Dortmunds Konzerthaus. (Foto: Björn Woll/Konzerthaus Dortmund)

In Dortmund beginnt die Spielzeit mit zwei Abenden in der Oper und im Konzerthaus. Einem sieht man die Geburt aus der Not an. Der andere endet in kosmischem Jubel.

Von Michael Stallknecht

Leer ist es in der Eingangshalle des Konzerthauses Dortmund, während die Besucher mit Masken zum Saisoneröffnungskonzert eilen. Noch leerer wirken am Tag danach die Flure des Dortmunder Opernhauses vor der ersten Spielzeitpremiere. Dass Foyers keine gemeinschaftsstiftende Funktion mehr erfüllen, gehört zu den Bildern dieser Tage.

Dass es in den Irrungen und Wirrungen der Corona-Maßnahmen Unterschiede selbst in derselben Stadt geben kann, merkt man erst drinnen: Im Opernhaus verkauft man momentan maximal 258 der 1170 Sitze, was die Premiere von Wolfgang Amadé Mozarts "Entführung aus dem Serail" wie eine Probe mit geladenen Gästen wirken lässt. Im Konzerthaus dagegen ergeben 700 Besucher auf 1550 Plätzen fast schon wieder eine kompakte Masse beim ersten großen Chorkonzert in Deutschland nach dem Lockdown mit Joseph Haydns Oratorium "Die Schöpfung".

Dass die Spielzeit keine normale werden würde, hat Heribert Germeshausen, der Intendant der Dortmunder Oper, früher als die meisten seiner Kollegen geahnt. Bereits im Mai hat er seine Pläne umgeworfen und statt "Carmen" als erste Premiere Mozarts Singspiel angesetzt, gekürzt auf 80 Minuten ohne Pause.

Nun sitzt also der Puppenspieler und Regisseur Nikolaus Habjan in der Bühnenmitte auf einer Drehscheibe und kommentiert die Geschichte aus der Sicht eines hübsch altklugen Kindes, das Habjan selbst in Gestalt einer großen Klappmaulpuppe spielt. Die eigentliche Geschichte hat er vorab mit kleineren Puppen verfilmt, die in den Videos auf der Bühnenrückwand agieren. Die Dialoge sind von den Sängern vorsynchronisiert, nur für die reduzierten Gesangsnummern treten sie live mit großen Abständen und in einzelnen Lichtkegeln an die Bühnenseiten.

Mozarts "Entführung" mit zehn Musikern? Das klingt nach irgendetwas zwischen Kaffeehausmusik und Studentenorchester

Sungho Kim singt den Belmonte mit rundem und elegant geführtem Tenor. Irina Simmes verleiht Konstanze mit klarer Textdeutung Ausdrucksstärke, während im Orchestergraben unter Leitung des Dirigenten Motonori Kobayashi gerade zehn Musiker spielen. Mozart in einer Fassung für Streichquintett, Klavier, Schlagzeug und drei Bläser, das klingt nach irgendetwas zwischen Kaffeehausmusik und Probe eines Studentenorchesters, jedenfalls ziemlich ärmlich.

Dass der Abend nicht recht auf Touren kommt, daran hat auch die Regie Anteil: Die kindlichen Kommentare, die Habjan mit seinem Co-Autor Paulus Hochgatterer geschrieben hat, sind wunderbar poetisch, bremsen aber den Fluss der Geschichte. Man merkt der Mischung aus Puppenspiel, Film und oratorienhaft rumstehenden Sängern die Geburt aus der Not an.

Gekürzte Klassiker in arrangierten Orchesterfassungen werden in den kommenden Wochen an vielen Orten die ausgedünnten Spielpläne prägen, gemischt mit einer oft ziemlich mutlos wirkenden Auswahl aus dem eigentlich großen Oeuvre der Kammeropern und einigen experimentellen Formaten, die deutlich mehr Spannung verheißen. Es gilt, ein Publikum mit eher hohem Altersschnitt überhaupt wieder in die Häuser zu locken, und dieses ist laut dem Intendanten der Dortmunder Oper momentan noch ziemlich zögerlich. Für die Folgevorstellungen der "Entführung", sagt Germeshausen vor der Premiere, seien die wenigen Karten bislang gerade mal zur Hälfte verkauft. Die regulären Abonnements hat er ohnehin ausgesetzt, auch die rein rechtlich mögliche Platzzahl schöpft er nicht aus, weil er dann weitreichendere Auflagen befolgen und bei Verstößen Bußgelder zahlen müsste.

Für die Probenphase haben sich Chor und Ensemble in die freiwillige Selbstisolation begeben

Die 700 am Tag zuvor im Dortmunder Konzerthaus haben sich dagegen offensichtlich nicht abschrecken lassen. Mit dem ersten Chorkonzert ohne Abstände setzt Intendant Raphael von Hoensbroech erneut auf ein Pilotprojekt, nachdem er bereits Anfang Juni das erste, damals ziemlich mutige Orchesterkonzert mit Abständen in Deutschland realisiert hatte.

Wieder hat er ein eigenes Schutz- und Hygienekonzept vorgelegt, um in enger Abstimmung mit den Dortmunder Ämtern für Ordnung und Gesundheit auszureizen, was möglich sein könnte. Es gehe ihm nicht darum, das Virus zu verharmlosen, sagt er in einer Publikumsansprache vor Haydns "Schöpfung", sondern darum, "wie wir mit der Pandemie leben können". Für die viertägige Probenphase haben sich der Balthasar-Neumann-Chor und das Balthasar-Neumann-Ensemble mitsamt ihrem Gründer und Leiter Thomas Hengelbrock in die freiwillige Selbstisolation begeben. Dreimal sind sie währenddessen auf das Virus getestet worden.

Im regulären Spielbetrieb der Dortmunder Oper wäre das schon deshalb nicht möglich, weil Inszenierungen mehrfach gezeigt werden und die Tests schlicht zu teuer wären. So konnte sich das Ensemble der "Entführung" nur einmal vor Probenbeginn testen lassen, Germeshausen setzt darauf, dass es außerhalb der Proben möglichst zu Hause bleibt.

Der Musikbetrieb in viralen Zeiten ist auch eine Zweiklassengesellschaft, solange es keine flächendeckenden Tests gibt. Weil auch Raphael von Hoensbroech weiß, dass es hier Sensibilitäten geben könnte, hat er für die Tests keine Steuermittel ausgegeben, sondern einen Sponsor gesucht. Als "Signal, als Weckruf" sieht er den Abend, so verkündet er es zu Beginn.

Er wird am Ende mehr sein: eine der großen Sternstunden des Musikbetriebs, wie sie vielleicht nur eine solche Ausnahmesituation ermöglicht. Die Gesangssolisten, der Chor, die im Stehenden spielenden Streicher und die Bläser auf Originalklanginstrumenten: Sie musizieren nach der langen Durststrecke der letzten Monate an der Grenze des Menschenmöglichen, nicht nur hinsichtlich der rasanten Tempi, die Thomas Hengelbrock vorgibt, die er aber stets im Dienste einer packenden, auch von vielen langsamen Passagen und intensiven Pausen gegliederten Dramaturgie einsetzt.

Glänzend besetzt ist die Schar der Soloengel mit dem federleichten, Koloraturen wie mit dem Silberstift zeichnenden Sopran von Robin Johannsen, dem lyrisch kraftvollen, gleichwohl schmiegsamen Tenor Julian Prégardien und dem Bariton Florian Boesch, dessen Tonfall ein wenig an die Bibelstunde eines gütigen Pfarrers erinnert. Denn eben das will diese Aufführung: wirklich erzählen von der Entstehung der Welt aus der brodelnden Ursuppe bis zum Auftritt Adams und Evas.

Die Engelschöre können mit ihrem ewigen Halleluja bei schwächeren Aufführungen nerven. Hier nicht

Weil Hengelbrock diese Erzählung ernst nimmt, verzichtet er auf die ironische Distanz, mit der bisweilen einzelne Effekte ausgestellt werden. Die schmerbäuchig schwimmenden Wale, der springende Tiger, die drückende Last des Gewürms, für die der Kontrafagottist sein Instrument eigens mit einem ziemlich historisch anmutenden Rohr verlängert: Sie alle haben ihren Platz im farbenreichen Spiel des Balthasar-Neumann-Ensembles, aber sie bleiben unter Hengelbrocks fester Hand Teil der Gesamtstruktur, die das musikalische Ebenbild der göttlichen, von Julian Prégardien zu Beginn mit nie gehörter Emphase gepriesenen Ordnung ist.

Auch dass nach der Pause - ja, es gibt sie an diesem Abend - für Adam und Eva noch mal neue Solisten hinzukommen, hält die Erzählung spannend. Für das Konzerthaus macht es das Projekt teurer, obwohl alle Beteiligten sowieso zu stark verminderten Gagen auftreten. Dafür klingen Katja Stuber und André Morsch wirklich wie frisch aus dem Ei geschlüpft, stimmen staunend und völlig unironisch ein in die Engelschöre, die mit ihrem ewigen Halleluja in schwächeren Aufführungen ziemlich nerven können. Doch der Chor vermag es immer wieder aufs Neue zu steigern, indem er Haydns durchdachte Musikrhetorik, seinen glänzenden Kontrapunkt brillante Chorwirklichkeit werden lässt. Alles biederbürgerlich Schmunzelnde, wohlgesetzt Sonntagsbratenhafte, das dieses Werk gern verbreitet, erscheint wie weggefegt in diesem kosmischen Jubel. Nicht nur Gottes Schöpfung und mit ihr Haydns gleichnamiges Oratorium entstehen hier wie zum ersten Mal, auch das Musikmachen erlebt seine Wiedergeburt aus dem brodelnden Chaos der Corona-Beschränkungen.

Während des tosenden Applauses kämpft Hengelbrock mit den Tränen, sein Chor singt zur Zugabe den Psalm 91 in der Vertonung von Felix Mendelssohn Bartholdy: "Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir". Es hat etwas von Musizieren in Kriegszeiten.

Dass der Krieg noch lange nicht gewonnen ist, weiß auch der Intendant des Dortmunder Konzerthauses. Er habe "keinerlei sichere Rechtsgrundlage, um Konzerte zu veranstalten", sagt Hoensbroech in der Pause, weil sich alles ständig ändere. So wäre nach den jetzigen Bestimmungen ein Projekt wie die "Schöpfung" bereits nicht mehr möglich. Erst recht lasse sich der Auftritt von Gastorchestern nicht in ähnlicher Weise realisieren, weil sie kaum mehrere Tage der Quarantäne in Dortmund verbringen könnten. An seiner Planung für die nun eröffnete Saison hat er dennoch bislang bewusst nichts verändert.

© SZ vom 08.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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