Klassik:Funkelnder Kristall

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Kirill Petrenko verlässt München. Bei einem Sibelius-Konzert in der Bayerischen Staatsoper zeigt er, wie sehr er fehlen wird.

Von Kristina Maidt-Zinke

Wenn Musik Literatur ist, dann ist sie schlechte Literatur", sagte Jean Sibelius in einem Zeitungsinterview beim Kopenhagener Musikfest 1919. Er sagte darin noch mehr Erhellendes über den Unterschied zwischen "literarisch" zu betrachtender Theater- und Stimmungsmusik und der "reinen Musik", die er als Komponist anstrebe. Zur Programmwahl des Festivals hatte er vier Wochen zuvor notiert: "Man will meine 2. Sinfonie haben. Lieber nähme ich die fünfte."

Auf Youtube kursiert eine ältere Aufnahme des Finalsatzes der Fünften unter Esa-Pekka Salonen, bei der sich hinter dem Podium kurioserweise das "Sklavenschiff" von William Turner riesenhaft entfaltet. Leonard Bernstein erblickte im Finale der Fünften "einen fantastischen Sonnenaufgang, wenn ich den Trompeten lausche, die den Himmel mit blutroten Strömen von Klang erleuchten". Und natürlich hat Sibelius selbst den Stimmungsmachern und Programm-Vermutern in die Hände gespielt mit seiner emphatischen Tagebuchnotiz über den Ruf vorbeifliegender Schwäne, die ihn zu jenem Finalthema inspiriert hätten.

Allzu lange haftete dem Finnen das Etikett des modernefeindlichen Tondichters und Naturlautmalers an, und Adornos berüchtigte Polemik aus dem Jahr 1938, die ihm obendrein Blut-und-Boden-Tendenzen unterstellte, ist insofern noch immer wirksam, als im Zusammenhang mit neueren Sibelius-Interpretationen, etwa der von Simon Rattle, gern von "Rehabilitierung" gesprochen wird. Doch setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass der Komponist vom Nordrand Europas durch sein Ringen mit der symphonischen Form, das für sein Œuvre viel bedeutsamer ist als seine patriotisch-populäre Vereinnahmung, einen Markstein auf dem Weg in die Moderne gesetzt hat. Der Fünften mit ihrer sonderbaren dreisätzigen Gestalt, aus einer zweimal revidierten, viersätzigen Urfassung des Jahres 1915 entstanden, kommt dabei eine Schlüsselstellung zu.

Es war nicht anders zu erwarten und hatte im Akademiekonzert an der Bayerischen Staatsoper dennoch wieder den Zauberstab-Effekt: Kirill Petrenko, der designierte Chef der Berliner Philharmoniker, den die Münchner nur mehr für eine Galgenfrist "ihr eigen" nennen dürfen, ließ das halbstündige Werk weit jenseits von Sonnenaufgangs- und Blutstrom-Assoziationen wie neu erstehen. Er schärfte seine Widersprüche, brachte seine Schroffheiten zum Funkeln und stellte zwischen den rondoartig wiederkehrenden, kristallklar konturierten Themen eine elektrisch aufgeladene Spannung her, kurzum: Er verschaffte der "reinen Musik", der musikalischen Intelligenz, einen strahlenden Triumph über jeden sentimentalen oder quasi-literarischen Deutungsversuch.

Und dabei wurden keineswegs den Schwänen die Flügel gestutzt: Nicht etwa gewollt beiläufig oder quasi-ironisch abschattiert kam das in der Popmusik vielfach kopierte Bläsermotiv daher, sondern kraftvoll-elegant, als ein der Natur abgelauschter, genial in die musikalische Struktur überführter Bewegungsimpuls, bevor sich in den sechs Akkorden der Schlusskadenz mit ihren langen Pausen jene Synthese von Zerrissenheit und Präzision vollzog, die bei einem Petrenko-Dirigat nicht anders denkbar gewesen wäre.

Großer Jubel, selbstredend. Aber dem kurzen Hauptwerk des Abends war ein längeres vorausgegangen, das in diesem Kontext keineswegs die Nebenrolle spielte, sondern als Pendant funktionierte: Das Bayerische Staatsorchester, durch Petrenkos Proben-Akribie gestählt wie sensibilisiert, und die Geigerin Julia Fischer leuchteten sämtliche Facetten und Finessen des 1910 entstandenen Violinkonzerts von Edward Elgar so mitreißend aus, dass auch dem immer noch unterschätzten Engländer eine Art Rehabilitierung zuteil wurde.

Längst ist das Werk aus der Domäne englischer Solisten und Dirigenten befreit, und Julia Fischer hat sich schon seit mehr als einem Jahrzehnt damit befasst. Von allem Virtuosentum abgesehen, entzückt die traumwandlerische Sicherheit und Grazie, mit der sie in den Orchesterklang eintaucht, mit ihm verschmilzt und sich dann wieder mühelos über ihn erhebt, in weichen, fast unmerklichen Übergängen, die der notorische Analytiker und Zertrümmerer Kirill Petrenko hier genussvoll zelebrierte, freilich stets auf der Basis hochgradiger intellektueller Durchdringung.

Kurz vor Ende huscht ein Lächeln über das Gesicht der Violinistin

Bei Fischers Umgang mit dem Instrument weiß man nicht, was man mehr bewundern soll: die ätherischen Pianissimi in den hohen Lagen, die sonore, klar artikulierte Klangrede, den Farbenreichtum. An diesem Abend aber drängte sich der beinahe amüsante Eindruck auf, dass sie das Elgar-Konzert bei aller Hingabe an dessen Herausforderungen mit einer britischen "stiff upper lip" spielte - so schneeköniginnenhaft kühl, fast unbeteiligt wirkte ihre Perfektion, zumal im Kontrast zu Petrenkos sicht- und fühlbarer Begeisterung für die Musik, seiner bezwingenden Spielfreude. Nur einmal, kurz vor dem Ende, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht - ob da eine Winzigkeit schiefgegangen war? Auch die Paganini-Caprice als Zugabe schien kaum Lockerung zu bringen.

Die Melancholiker im Münchner Publikum aber werden nun selbst eine "stiff upper lip" bewahren müssen angesichts einer Zukunft ohne Kirill Petrenko.

© SZ vom 07.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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