Klassik:Freiheit und Kitsch

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Der Komponist Helmut Oehring liebt Flickschustereien und Episoden. Jetzt hat er eine Heinrich-Böll-Oper für Köln geschrieben.

Von MICHAEL STRUCK-SCHLOEN

Das stand es, das neue Schauspielhaus ‒ ein weißer, reiner Block der Kunst im Tal der Wupper, das im September 1966 noch nach Industrie roch und nach Kriegszerstörung. Um das Haus würdig einzuweihen, engagierte man Heinrich Böll für die Festrede. Doch Böll hielt sich nicht an die Spielregeln, sondern rechnete in Anwesenheit von Bundespräsident Heinrich Lübke mit dem CDU-Staat und der Einverleibung der Kunst ab: "Das ist es, was die Gesellschaft mit ihr unternimmt: einordnen, formieren in die Marschordnungen der freien Marktwirtschaft hinein die Freiheit zu Freiheiten zerstückeln."

Wie einst Heinrich Böll sieht sich der Berliner Komponist Helmut Oehring als Spaßverderber im Kulturbetrieb. Seine Stücke lassen sich nicht "einordnen" und "formieren". Sie neigen zur Formlosigkeit, überfordern den Zuschauer durch Materialfülle und sind offen für jede Stilrichtung. Für Oehring verläuft Geschichte in Wiederholungsschleifen. Also lassen sich Gefährdungen und Katastrophen nie vermeiden. Aber man kann aus ihnen lernen. Deshalb findet sich bei Oehring oft Unvereinbares, das sich gegenseitig kommentiert: Der von der Gesellschaft erniedrigte Wozzeck und die Ausgrenzung der gehörlosen Eltern des Komponisten in der DDR, Shakespeare und der Eismeerfahrer Shackleton, Wagner und Andersen, Monteverdi und Joseph Conrad.

Jetzt haben sich zum hundertsten Geburtstag von Heinrich Böll der Komponist und seine Mitautorin Stefanie Wördemann gleich mehrere von Bölls Schriften vorgenommen. Da gibt es Briefe von der Front im Zweiten Weltkrieg: erschütternd hellsichtige, manchmal kindlich ängstliche Beschreibungen des Soldatenlebens und des verzweifelten Versuchs, menschliche Würde zu bewahren. Oehring lässt das meist von seiner Tochter Mia vortragen. Konzentriert und mit Botticelli-Mähne wandelt sie durch den Raum und greift am Ende zur Gitarre, um Leonard Cohens "Hallelujah" zu säuseln. Das wäre nicht unbedingt nötig gewesen, aber Oehring liebt Kitschmomente, weil sie die stilistischen Reinheitsapostel schmerzen und viel über den Gefühlshaushalt einer Zeit aussagen.

Oehring vermeidet den hermetischen Ton moderner Musik

Bölls Wuppertaler Rede über die Freiheit der Kunst bildet den Kern dieses "dokupoetischen Instrumentaltheaters" und inspirierte den Titel: "Kunst muss (zu weit gehen)". Das Ensemble Musikfabrik skandiert Passagen daraus, plakathaft im Stil des Agitprop-Theaters. Aus Bölls Kriegsheimkehrer-Roman "Der Engel schwieg" wird zitiert, Gedichte schwirren durch den Raum, auch Hörspielfetzen mit der Stimme von Bölls Sohn René, der am Schluss zusammen mit seiner Nichte Samay ans Mikrofon tritt und den Abend durch den Familienstempel beglaubigt.

Das alles ist episodisch und flickenartig zusammengesetzt. Oehring vermeidet den hermetischen Ton moderner Musik, jagt gern einen Riff oder einen Marsch durchs Ensemble, lässt die E-Gitarre losheulen, zitiert Beethoven, Bach oder die "Zuhälter-Ballade" aus der "Dreigroschenoper". Aufgehoben wird auch die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Profimusikern und Kindern, die gleich zu Beginn im offenen, kulissenlosen Raum mit Kreide den Boden bekritzeln.

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Im Vorfeld wurde jeder im Ensemble nach seinem persönlichen Weg zur Musik und zur Freiheit der Kunst befragt. Einige dieser Geschichten werden in kleinen Szenen gespielt. Da ist der Posaunist aus dem Arbeiterhaushalt in Minnesota, der immer der beste im Sport sein wollte, die Geigerin mit den schlimmen Träumen, das Trompeterpärchen, der Tubist, der die Stelle bei der BBC nicht bekam, weil er zur Geburt seines Kindes ins Krankenhaus gerufen wurde. Das alles hat wenig mit der Freiheit der Kunst und noch weniger mit Heinrich Böll zu tun und deshalb wird der Abend bei aller Buntheit auch ziemlich lang.

© SZ vom 22.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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