Klassik:Das politische Violinkonzert 

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...und eine Symphonie als Tanzstück: Andris Nelsons' großartiger Auftakt als Chefdirigent in Leipzig.

Von Reinhard J. Brembeck

(Foto: AFP)

Andris Nelsons ist einer der profiliertesten jüngeren Dirigenten, im Herbst dieses Jahres wird er erst 40 Jahre alt. Schon seit vier Jahren leitet er die Sinfoniker in Boston, in dieser Woche hat er in Leipzig seinen Posten als Chef des dortigen Gewandhausorchesters angetreten, das gerade seine ersten 275 Jahre feiert. Zu seinem Antrittskonzert in dem 1981 eröffneten Gewandhaus gab es keine Reden, sondern ein ganz normales Konzertprogramm mit der Uraufführung von Steffen Schleiermachers fünfzehnminütigem "Relief", Alban Bergs Geigenkonzert und der vor 176 Jahren in Leipzig erstaufgeführten Dritten von Felix Mendelssohn, einst ebenfalls Gewandhauschef.

Das Berg-Violinkonzert ist die Vision einer idealen Gesellschaft

Das Berg-Konzert ist ein undankbares Stück für jeden Solisten. Rasereien, Technikgrotesken und Doppelgriffschlachten werden ihm im Übermaß abverlangt. Sie dürfen aber meist nicht in den Vordergrund gerückt werden, sondern sollen manchmal sogar unauffällig im vollen Orchesterklang untergehen. Eine solche Degradierung machen gestandene Virtuosen-Egos in der Regel nicht mit, weshalb Aufführungen des Stücks meist grotesker Unsinn sind. Baiba Skride - sie stammt wie Nelsons aus Lettland - aber ist uneitel, musikalisch und virtuos genug, um Bergs so konsequent gegen die Geige komponiertes Stück wie gefordert zu spielen. Sie hat kein Problem damit, im Orchesterklang mitzuschwimmen und immer wieder mal darin zu versinken.

Weil Nelsons mit Baiba Skride die ideale Berg-Virtuosin gefunden hat, kann er seine von üblichen Lesarten abweichende Vision dieses Stücks vollkommen verwirklichen. Es ist die schwebende, ruhige Traumvision einer idealen Gesellschaft, in der der Einzelne mit all seinen Eigenheiten zwanglos als Teil des Ganzen existieren kann, in der er kein Ausgestoßener sein muss, kein Rebell, Querulant, Anführer oder Diktator. Wenn sie so musiziert wird, kann selbst die alte Klassik ungeahnt politische Musik sein, die sich damit auch gegen antidemokratische und ausgrenzende Tendenzen richtet.

Andris Nelsons dirigiert Moderne und Uraufführungen häufig, gern und mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie Romantik, Schostakowitsch, Wagner oder Mendelssohn. Seine Einsicht in neue Stücke ist genauso frappant wie die in die alten. Steffen Schleiermacher, geboren 1960 in Halle, ist vor allem als ein genialer Pianist neuer Musik bekannt, er schreibt aber auch viele Stücke. Sein "Relief" ist ungemein farbig, vielschichtig und orchesteraffin. Alle aus der Avantgarde bekannten Experimente und Kunstverrenkungen baut Schleiermacher in einen Freudentanz ein, der ganz gut zu diesem dezenten Jubelabend passt. Und Nelsons mit seinen Leipzigern verwandelt selbst die ausgetüfteltsten Momente in schiere Sinnlichkeit.

Einen solchen Musiker hat sich Richard Wagner einst erträumt

Mendelssohns Dritte wird sehr viel weniger gern als die italienische Vierte gespielt und leidet in vielen Aufführungen oft darunter, dass das Orchester kompakt aufspielen muss, was bei modernen Ensembles schnell breiig breit klingt. Nelsons lässt auch hier leicht und federnd zum Tanz aufspielen. Manches klingt nach Klezmer, dann wieder scheint Johann Sebastian Bach, der ja nur zehn Gehminuten vom heutigen Gewandhaus entfernt residierte, mitkomponiert und seine Lust an Kompliziertheiten unauffällig in dieser so dezidiert sich nach Natur und frischer Luft sehnenden Musik ausgelebt zu haben. Auch hier verblüfft, wie selbstverständlich Nelsons Folklore und Artifizielles amalgamiert, wie genau er die Partitur liest, wie fein er deren Konturen zeichnet und wie subtil er Vollklang und Details versöhnt. Genauso erstaunt, wie er es nie krachen lässt und doch sehr laut ist, wie zwanglos er ins Zarte und Leise wechselt und wie elegant alles abläuft, fern von Fanatismus und Rechthaberei. Nelsons ist jener Musiker der Zukunft, den der in Sachen Fanatismus und Rechthaberei so versierte Richard Wagner (auch er eine Lokalgröße) einst erträumte.

Zuletzt kann es Nelsons gar nicht lassen, seinen Musikern, besonders seinen beiden Vorgeigern immer wieder dankend die Hand zu halten. Einmal zupft er einen sogar am Kittel, als der die wieder einmal hingestreckte Rechte nicht sieht. Nelsons weiß genau, welch fabelhafte Musiker da sitzen und dass es ein Riesengeschenk für ihn ist, mit ihnen nun auf Jahre hinaus zusammenarbeiten zu dürfen.

© SZ vom 24.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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