Klassik & Corona:Weitgehend unsichtbar

Lesezeit: 5 min

Die Rede ist vom Publikum. Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert in Dortmund Beethoven. 33 Musiker sitzen auf der Bühne, der Saal ist zu einem Viertel voll.

Von Michael Stallknecht

Ohne Wenn und Aber", sagt Elke Stadler, "mehr als zwei Leute kommen nicht in den Aufzug. Und auch das nur, wenn sie im Saal zusammensitzen." Freundlich, aber wahrscheinlich noch etwas resoluter als sonst gibt die Hausdame des Konzerthauses Dortmund dem Einlasspersonal Anweisungen für die kommenden Stunden: über das komplexe Wegesystem, die getrennten Türen für den Einlass und den Auslass oder das Funksignal zur Straßenfront, falls sich oben in den Gängen Besucher stauen sollten. Wer später die Eintrittskarten scannt, bekommt zwei Paar Einweghandschuhe mit auf den Weg.

Es ist 14 Uhr hinter der Bühne, die Musiker des Konzerthausorchesters Berlin, in zwei verschiedenen Zügen angereist, tröpfeln langsam ein. Auch für sie sind die Wege bereits markiert, auf denen sie zweimal, um 16 Uhr und um 19 Uhr in den Konzertsaal gehen werden. An ihrem Stammsitz in Berlin sind die Opernhäuser und Konzertsäle noch bis mindestens 31. Juli geschlossen. Nun hat sie Raphael von Hoensbroech, Intendant am Konzerthaus Dortmund, für ihr erstes Konzert ins Ruhrgebiet gelockt. Ob es stattfinden würde, wusste auch er bis vor wenigen Tagen nicht.

Es habe durchaus Widerstände "von Teilen der Politik" gegeben, sagt er beim Gespräch im Intendantenzimmer. Und immer wieder die Frage, ob Dortmund nun schon unbedingt ein Orchesterkonzert veranstalten müsse, obwohl Ende Juni die Saison in Nordrhein-Westfalen sowieso offiziell beendet wäre. Dass Verordnungen und Signale von Regierungsseite widersprüchlich sind, gehört zum gängigen Chaos dieser Tage. Am Ende gestattete das Dortmunder Gesundheitsamt die Veranstaltung, nachdem es Nachbesserungen etwa bei der Wegeführung gefordert hatte.

Die Maske ist zum Banner der ersten Nach-Corona-Klassikkonzerte vor Publikum geworden. (Foto: Pascal Amos Rest)

Dabei ist es nicht einmal das erste Orchesterkonzert in Deutschland, bereits vor einer guten Woche ist das Gürzenich-Orchester in der Kölner Philharmonie vor einhundert Abonnenten aufgetreten. Auch in Österreich finden seit vergangenem Wochenende wieder Orchesterkonzerte mit einhundert Besuchern statt. Der Dortmunder Plan dagegen hat eine andere Dimension: Zweimal 393 Besucher in einem Haus mit 1550 Sitzplätzen, die Hälfte von ihnen Abonnenten, die andere mit Karten aus dem freien Verkauf.

"Ich hätte diesen Kampf nicht geführt, wenn ich nicht denken würde, dass es wichtig wäre", sagt Hoensbroech. Dass Konzerte unter den verschiedenen Prioritäten für Wiedereröffnungen plötzlich "wie ein Luxusgut" gewirkt hätten, darin sieht er eine mögliche Gefahr auch für die Zukunft des Musikbetriebs. Kultur sei "nicht nur systemrelevant, sondern systemimmanent", eine Notwendigkeit wie die Natur. Weitere Orchesterkonzerte plant er bis zum Saisonende nicht mehr, in den kommenden zwei Wochen finden aber nun immerhin noch Kammermusik- und Klavierabende statt.

Den Auftritt des Konzerthausorchesters Berlin sieht er als notwendigen Testballon für die neue Saison ab September, wie auch immer diese dann aussehen werde. "Wir wissen bislang überhaupt nichts darüber, wie sich das Publikum unter solchen Bedingungen verhält."

Eine knappe halbe Stunde vor Beginn des Konzerts ist das Publikum weitgehend unsichtbar. Das Foyer, in dem es weder Gastronomie noch Garderobe gibt, gleicht einer leeren Bahnhofshalle. Die Karten sind in zwei Gruppen eingeteilt, Gruppe A mit den inneren Plätzen in den Saalreihen soll eine dreiviertel Stunde, Gruppe B für die Randplätze erst eine halbe bis viertel Stunde vor Beginn kommen. Einige Besucher auf dem Weg nach drinnen äußern allesamt mehr Vorfreude als Angst vor einer Ansteckung. "Schön dass es wieder losgeht", sagen die befragten, allesamt älteren Zuhörer, oder: "Endlich wieder ein Stück Normalität". Nur zuhause zu sein, das sei "schließlich auch kein richtiges Leben".

Nur ein Viertel der Plätze darf im Konzerthaus Dortmund beim ersten Orchesterkonzert nach dem Lockdown angeboten werden. (Foto: Pascal Amos Rest)

Dennoch bleiben beim ersten Konzert etwa 50 verfügbare Sitze frei, obwohl beide Konzerte ausverkauft sind. Im Auditorium ist es damit deutlich leerer als auf der Bühne, die von den 33 Musikern vollständig ausgefüllt wird. Zwischen den Bläsern stehen Plexiglaswände, was - auch das ein Bruchstück des gegenwärtigen Chaos - bei den Proben in Berlin nicht erforderlich war, aber nach den Vorgaben der nordrhein-westfälischen Corona-Schutzmaßnahmen. Nach Studien bei unterschiedlichen Orchestern gelten zwei bis drei Meter Abstand auch für Blasinstrumente als hinreichend, Blechbläser müssen ihr Kondenswasser auf Papier schütten statt einfach auf den Boden.

Die Musiker des Konzerthausorchesters sind bereits während des Einlasses einzeln auf die Bühne gekommen. Passend zum Anlass beginnen nur die Streicher mit einem "De profundis", einem Ruf "aus der Tiefe" der litauischen Komponistin Raminta Šerkšnytė. Danach folgen in knapp eineinhalb Stunden ohne Pause Joseph Haydns Cellokonzert in C-Dur und Ludwig van Beethovens Vierte Symphonie. Nach ursprünglicher Planung hätte der 80-jährige Christoph Eschenbach als Chefdirigent des Konzerthausorchesters das Konzert leiten sollen. Die junge Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla war schon am Coronavirus erkrankt und darf deshalb wahrscheinlich als immun gelten. Ab dieser Spielzeit ohnehin Exklusivkünstlerin am Konzerthaus Dortmund für drei Jahre, ist sie mehr als nur eine souveräne Einspringerin.

Nach einem richtigen Konzert fühlt es sich dennoch noch nicht an, dafür fehlt der festliche Rahmen, das gemeinsame Einschwingen vor dem Konzert

Beethovens Vierte dirigiert die Litauerin so zupackend, als wolle sie den Musikbetrieb im Alleingang wieder in Bewegung bringen. In rasanten Tempi schäumt die Musik vor Freude über, mit wuchtigen Schlägen behauptet Beethoven seinen Wiedereinzug in den Konzertsaal. Für Haydns Cellokonzert gesellt sich mit Kian Soltani ein junger Solist hinzu, der farbenreich und klanglich differenziert spielt, aber dabei zugleich immer nach vorne drängt.

Nach einem richtigen Konzert fühlt es sich dennoch noch nicht an, dafür fehlt der festliche Rahmen, das gemeinsame Einschwingen vor dem Konzert, die verdichtete Energie, die von einem vollen Haus ausgeht. Dafür wird zwischen den Sätzen nicht gehustet, was gern auch in den Zeiten nach dem Virus so bleiben darf.

Und auch der Orchesterklang überzeugt trotz der Abstände zwischen den Musikern, mindestens in der hervorragenden Dortmunder Akustik. Dass sich eine Beethoven-Symphonie mit 33 Orchestermusikern gut realisieren lässt, hat die Originalklangbewegung bereits vielfach unter Beweis gestellt. Die ursprünglich geplante Zweite Symphonie von Johannes Brahms muss dagegen wohl noch einige Wochen, wenn nicht Monate warten.

Mirga Grazinyte-Tyla dirigiert das Konzerthausorchester Berlin im Konzerthaus Dortmund. (Foto: Pascal Amos Rest)

Gražynitė-Tylas präzise Schlagtechnik sorgt für gute Koordination über die Abstände hinweg. Die solistischen Bläser dringen noch etwas besser durch die Streicher als in gewöhnlichen Aufführungen, doch glücklicherweise zerfasert der Orchesterklang nicht, sondern wirkt bei Bedarf durchaus kompakt und schlagkräftig.

Welche Herausforderung das für die Musiker dennoch ist, kann man danach hinter der Bühne erfahren: Sie habe sich gefühlt, als müsse sie alle Tentakel nach ihren sonst so nahen Mitspielern ausstrecken, sagt die Geigerin Karoline Bestehorn, der normale Schutz der Gruppe habe ihr gefehlt. Mindestens der Beginn sei ihm "ziemlich verklemmt" vorgekommen, ergänzt ihr Klarinettenkollege Ralf Forster, weil er ständig die Schallverzögerung zu den Kollegen einberechnen müsse. Dennoch überwiegt bei beiden die Erleichterung, auch die Freude.

Die spielfreie Zeit, so Forster, sei für ihn schlimmer gewesen "als jede Marathonsaison": täglich üben zu müssen, um die Muskulatur im Training zu halten, ohne irgendein konkretes Ziel zu haben. Ein halbleeres Auditorium fühle sich zwar auch auf der Bühne merkwürdig an, sagt die Geigerin, aber mindestens sei man jetzt wieder im Kontakt mit dem Publikum: "Wir Musiker brauchen das Publikum." "Und das Publikum die Musik", ergänzt der Klarinettist.

Dass er erst jetzt merke, wie angespannt er vorab gewesen sei, gibt auch Raphael von Hoensbroech zu. Wirtschaftlich hat sich für den Intendanten das Konzert nicht gelohnt, die die Kosten sind auch bei einer kleinen Orchesterbesetzung höher als die Einnahmen von knapp achthundert Besuchern. Selbst wenn in den kommenden Monaten Konzerte wieder regulär durchführbar werden, dürfte das zum Problem gerade für die vielen rein privaten Veranstalter werden.

Hoensbroech beziffert für das Konzerthaus Dortmund bereits jetzt einen Verlust im siebenstelligen Eurobereich. Dazu hat er momentan keinerlei Rechtssicherheit, ob er Gagen für den Rest des Monats auszahlen müsste, wenn die Konzerte nicht stattfänden. Weil das Land Nordrhein-Westfalen offiziell die Konzertsäle schon mit Beginn des Monats wieder freigegeben hat, kann er sich ab jetzt nicht mehr auf Vertragsklauseln über "höhere Gewalt" berufen. Ganz abgesehen davon, dass er die Musiker natürlich lieber bezahlen möchte. Der Vorverkauf für die kommende Saison aber sei bereits gut angelaufen, sagt er, nur zehn bis 15 Prozent unter den Erwartungen für normale Zeiten. Der Konzertbetrieb tastet sich ins Leben zurück, mit vielen kleinen und ein paar größeren Schritten.

© SZ vom 09.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: