Klassik:Besser im Stehen gespielt

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Ein Grandseigneur am Pult: Sir John Eliot Gardiner. (Foto: Sim Canetty-Clarke)

John Eliot Gardiner dirigiert die BR-Sinfoniker in München - und lässt sie bei Schumann aufstehen.

Von Reinhard J. Brembeck

Orchestermusiker stehen in der Regel nur beim Schlussapplaus auf. Bei John Eliot Gardiner stehen die BR-Sinfoniker bis auf die Cellisten (ihr stacheliges Instrument erzwingt einen sitzenden Musiker) schon zu Beginn des zweiten Konzertteils im Münchner Herkulessaal und sie bleiben dann auch eine halbe Stunde lang stehen, während Margaretes Marien-Arie aus den "Faust-Szenen" und der pausenlos darauffolgenden d-Moll-Vierten von Robert Schumann. Was soll das? Ist das einer der Moden der Alten-Musik-Bewegung geschuldet, die sich neuerdings akademisch blasiert als "historisch informiert" verkauft?

Von wegen. Dirigent John Eliot Gardiner, 76 Jahre alt , führt den Münchnern vor, was Musizieren jenseits von dem auf Kulinarik und Pultmagie erpichten Mainstream bedeutet. Also packt er im ersten Konzertteil die c-Moll- und die e-Moll-Sinfonie von Joseph Haydn mit der von Anna Prohaska engagiert zerschlissen gebotenen "Berenice"-Szene zusammen und stellt sie dem Schumann-Paket gegenüber. Auf dass es jedem im Saal wie Schuppen von den Ohren fallen möge, dass den Wiener Klassiker Haydn und den Rheinischen Romantiker Schumann sehr viel mehr verbindet als trennt. Beide sind sie Stürmer, Dränger und mit dem Status Quo Unzufriedene. Beide basteln liebend gern und raffiniert mit Kleinstmotiven und erfinden sich dabei jedes Mal eine ganz eigene Großform. Wobei der Sinfonieformzertrümmerer Schumann sehr viel weiter geht als der Sinfonieformerfinder Haydn.

In Gardiners klingend praktizierte Musikphilosophie fügt sich das stehende BR-Orchester sinnfällig ein. Viele der Alte-Musik-Ensembles spielen im Stehen. Das führt zu einer größeren Spannung, kann sich doch niemand in seinen Spielpausen zurücklehnen. Schumanns d-Moll-Sinfonie ist Ausbruch und Rebellion. Sie ist Neuerfindung der Sinfonieform auf den geschrotteten Resten der einst so selbstsicheren klassischen Form, an deren gesichert gefestigtes Weltbild der durch die industrielle Revolution, die politische Restauration und persönliche Missgeschicke geprägte Schumann einfach nicht mehr glauben konnte. Diese Entwurzelung kann ein stehend spielendes Ensemble sehr viel sinnfälliger machen als ein bequem sitzendes.

Die BR-Sinfoniker spielen ohne Vibrato, das ist eine allzu vernachlässigte Tugend

Schumanns rastlose Kreativität zwingt ihn noch einmal zur großen in sich geschlossenen Form. Die er wie Haydn aus kleinteiligen Versatzstücken aufbaut. Aber anders als bei Haydn ist das Mühselige und Verzweifelte dieses Tuns trotz aller rauschhaften Leidenschaft spürbar. Deshalb ist das Endprodukt ein vielfach Gefährdetes, von Verfall und Zusammenbruch umlagert. Diese Ästhetik ist hochmodern, sie macht Schumann zu einem der interessantesten alten Komponisten.

Gardiner zielt nicht nur aufs Heute, er erhellt auch eine historische Parallele. Ohne die "Symphonie fantastique" von Hector Berlioz wäre Schumanns Vierte nicht denkbar. Berlioz, wie Wagner ein Quereinsteiger und deshalb besonders zu Neuerungen aufgelegt, hatte mit der "Fantastique" allen Zweiflern bewiesen, dass die große Form noch komponierbar ist - wenn man sich von der Tradition verabschiedet. Schumann war überglücklich über diese Lehre, und Gardiner macht in seiner Deutung alle Momente klar, die auf das Urbild zurückgehen: Klangfelder, Instrumentationsungeheuerlichkeiten, Mosaiktechnik, Verweigerung des Ganzheitlichen.

Haydn komponiert wie Schumann intellektuell kontrolliert. Die BR-Sinfoniker spielen ohne jedes Vibrato, das ist eine in der heutigen Orchesterkultur allzu vernachlässigte Tugend. Ohne Vibrato kommen das Schillernde und Dunkle im Klang Haydns zum Vorschein, das verhindert, dass diese Musik wie so oft glatt lehrerhaft klingt. Gardiner führt vor, wie Haydn musikalisch denkt, wie verblüffend unerwartet seine Lösungen und Fortführungen sind. So kommt der Zuhörer nie aus dem Staunen heraus und ist dankbar dafür, dass Gardiner jede Wiederholung spielt und so überprüfbar wird, ob Haydn nur überrumpelt oder einen tieferen Sinn mit seinen Manövern verfolgt. Letzteres ist die Regel.

Das sich nicht zur Vollendung Drängende Schumanns ist in den Haydn-Sinfonien nicht zu finden. Sehr wohl aber in der "Berenice"-Szene, wo das verzweifelte Liebesleid gegen jede Geschlossenheit und Erfüllung steht. Hier findet sich all das, was Schumann und Berlioz Jahrzehnte später als die Ästhetik ihrer Zeit entdecken. Und die BR-Sinfoniker? Die sollten auch fürderhin noch so manches Konzert einfach mal durchstehen.

© SZ vom 27.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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