Ist diese widerliche Geschichte im Internet wirklich meine? Passe ich in das Märchen, das ich dem amerikanischen Zoll gleich auftischen werde? Oder habe ich eine eigene Geschichte? Ich weiß es nicht." Fragen, die sich die 14-jährige Emilia stellt, allein unterwegs im Flugzeug nach New York, auf der Flucht vor den Eltern, die sich zum Gespött der ganzen Niederlande gemacht haben. Alles hat sie genau geplant, die Einreisepapiere gefälscht, die Kreditkarte des Vaters gestohlen - in der Hoffnung, ihrem alten Leben auf immer zu entkommen. Niemals mehr Tochter dieses Vaters, dieser Mutter sein.
Eine ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichte, mit drei Jugendlichen, die der Zufall und eine Naturkatastrophe zusammenbringen. Bei der Ankunft in New York scheint Emilias Trip schon wieder beendet zu sein - die Wohnungsbuchung per Internet entlarvt sich als Schwindel, allein sitzt sie auf den Stufen des Hochhauses in Soho. Ein Junge öffnet die Haustür, Seth, auf der Suche nach seiner kleinen Schwester Abby. Er wird Emilia aufnehmen, sich um sie kümmern, genau so wie um den verletzten Jim, der ein Stockwerk höher in einer verlassenen Wohnung campiert.
Drei Kids und ein kleines Mädchen, ohne Erwachsene auf sich allein gestellt - denn bald erreicht der angekündigte Hurrikan Sandy die Stadt. Der öffentliche Nahverkehr, die Wasserversorgung und die Kommunikation über elektronische Medien brechen zusammen. Viele Stadtteile, auch Soho, versinken in hundert Stunden Dunkelheit, in denen sich das Leben in New York aufzulösen scheint. Das Buch von Anna Woltz bietet aber mehr als die übliche Katastrophenliteratur, mehr als ein Abenteuer, das als Folie dient für menschliches Verhalten in Extremsituationen, für Heldentum und Versagen. Bei Anna Woltz hatte die Katastrophe längst im Leben der drei Jugendlichen Einzug gehalten. Davon erzählen sie nun, bei Kerzenlicht - während draußen die Kommunikation anscheinend nur noch aus brutalen Hetzmails und geifernden SMS besteht.
Genau das hat auch Emilia daheim schon erfahren, als der Vater, als Direktor ihrer Schule, verliebte Mails an eine Schülerin schickte, die diese später im Netz veröffentlichte. Während die Mutter, immer schon für sie unerreichbar, ein Leben als Malerin führt. Die Ereignisse haben Emilia verstört, sie wird von Angstattacken und einer Reinlichkeitsphobie geplagt, scheut vor jeder Berührung zurück, lässt keine Nähe zu. "Ich lauf schon seit 14 Jahren auf diesem Planenten rum, aber immer noch habe ich das Gefühl, die Regeln nicht zu kennen." Jim wiederum, auf der Flucht vor seinen Eltern, lehnt die USA als brutales kapitalistisches System ab. Während Seth sich ganz in sich selbst zurückzieht, um seine eigene Version über den Tod des Vaters nicht aufgeben zu müssen.
Die hundert gemeinsamen Stunden sind frei von jeder Larmoyanz, die Sprache ist dialogreich und schnell, voller Erinnerungsblitze (wunderbar übertragen von Andrea Kluitmann), und für die Höhepunkte sorgt Abby, die kleine Schwester von Seth - sie erinnert an andere Figuren bei Anna Woltz. In "Meine wunderbare Woche mit Tess" schafft es die Titelheldin, raffiniert und mit kreativer Energie, den von der Mutter verheimlichten Vater zu finden. Während die elfjährige Fitz in "Gips oder wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte" als Reaktion auf die Trennung der Eltern "Mama soll sterben" mit Pergamentmarker auf ihre Stirn schreibt. Diese Mädchen zerbrechen nicht an den Erwachsenen, ihre Wut ist so groß, dass sie sich wehren. Skrupellos, frech, altklug und naiv mischt sich auch Abby mit ihren wilden Ideen in die Geschichten der Älteren ein, schockt und öffnet doch den Blick in die Zukunft. In einem wunderbaren Happy End wünschen zwei junge Menschen sich Dunkelheit, während in New York wieder gewohnter Alltag herrscht. (ab 13 Jahre)
Anna Woltz: Hundert Stunden Nacht. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Carlsen Verlag, Hamburg 2017. 256 Seiten, 15,99 Euro.