Kafkas Schloss:Traumflocken

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Kafkas Romane, das sind vor allem Räume und Topografien. Klaus Buhlert hat sie mit den Stimmen von Devid Striesow, Corinna Harfouch und vielen anderen gefüllt. Und alles ist wunderbar evident.

Von Jens Bisky

Es hat geschneit, wann genau, weiß keiner. Aber in dieser Gegend, sagen manche, kann Schnee selbst an den wenigen schönen Tagen fallen. Ein Mann in den Dreißigern, eine nicht sehr stattliche Erscheinung, kommt auf der Suche nach einem Nachtlager ins Wirtshaus. Man weiß ja, wie das in Dörfern zugeht. Bauern trinken ihr Bier dort, es ist warm, er findet einen Strohsack und etwas Ruhe, bis einer ihn - Ordnung muss sein - nach der Erlaubnis fragt, hier zu übernachten. Da es im Augenblick, jetzt um Mitternacht, gar nicht möglich sei, die Erlaubnis zu erhalten, müsse er gehen.

Er sei doch aber, sagt der recht zerlumpt Ausschauende, als wäre ihm die rettende Auskunft eben erst eingefallen, der Landvermesser, den der Graf habe kommen lassen. Vom Kampf des Landvermessers K. um die Erlaubnis, da zu sein und als Landvermesser anerkannt zu werden, erzählt Franz Kafkas Romanfragment "Das Schloss" in gnadenlos konkreter Prosa. "Deute mich", scheint jede Seite zu rufen, aber die Sätze kommen ohne Metaphern aus, welche die Deutung leiten könnten. Nur selten fallen Allgemeinbegriffe, "Amt" etwa oder "Leben".

Im Jahr 1922, als Kafka am "Schloss" schrieb, kam Friedrich Wilhelm Murnaus Film "Nosferatu" in die Kinos. Soll man sich das Schloss des Grafen Westwest, der den Landvermesser angeblich hat kommen lassen, vorstellen wie das düstere Schloss des Grafen Orlok in Murnaus "Symphonie des Grauens"? Oder gleicht es dem Prager Hradschin? Einem anderen Schloss im Böhmischen? Kann sein, kann auch nicht sein. K. sieht ja nichts vom Schlossberg, nichts, was auf das Schloss deuten würde, er blickt in Leere, "scheinbare Leere".

Vorsicht vor dem Erzähler legt diese Inszenierung von Anfang an nahe

Die Örtlichkeiten haben für die Deutung des Fragments von Anfang an eine große Rolle gespielt. In jüngster Zeit haben sich Literaturwissenschaftler ausführlich mit den Topografien und Räumen in Kafkas unvollendetem Roman beschäftigt. Aber ob das Schloss nun der Ort der Gnade ist, wie Kafkas Freund Max Brod vermutete, oder der Sitz einer Behörde, die das Grauen der modernen Existenz orchestriert, oder ein Nichts, zu dem kein Weg führt - ein Hörspiel kann diese Fragen zunächst unbeantwortet lassen.

Es kann auf die Kraft der vielen kleinen Szenen vertrauen, auf K.s Ärger mit den Gehilfen, auf den Kuddelmuddel mit den Frauen, die Gespräche mit Amtsinhabern in Szene setzen und die Versuche, vor den Wirtinnen zu bestehen, nebst viel Schnee und Müdigkeit. Darüber hinaus hat der Regisseur Klaus Buhlert für seine "Schloss"-Inszenierung einen Erzählrahmen gefunden, eine dramaturgische, nicht-allegorische Deutung des Fragments. Das Spiel beginnt zweimal.

Über einem Musiktableau spricht eine Frauenstimme, als beginne ein Schauerroman: "Spätabends. Das Dorf. Schnee. Nebel und Finsternis." Tritte sind zu hören, schweres Atmen. "K. auf der Holzbrücke. Blickte in scheinbare Leere empor. Dann ging er." Ein paar Schritte noch, in die Atemgeräusche hinein spricht der Erzähler die ersten Sätze des Romans: "Es war spätabends als K. ankam." Und schon während des ersten Absatzes wechseln Klang und Haltung der Erzählerstimme, als spräche Michael Rotschopf mal direkt ins Mikrofon, mal aus einer Ferne. Die Musik verklingt, wir sind im Wirtshaus.

Damit hat Klaus Buhlert zwei Ebenen etabliert. Er führt einerseits das Geschehen in seiner Sinnlichkeit, mit Gesten, Übereilungen, Stockungen vor, direkt, drastisch, grotesk, und er fasst, gleich zu Beginn und dann immer wieder im Lauf der gut zehn Stunden, Motive, Satzfetzen, Klänge zu Traumbildern zusammen. Das ist dem Text nicht äußerlich. K. muss sich bei Kafka, kaum dass er zum ersten Mal aufgeweckt wurde, "davon überzeugen, ob er die früheren Mitteilungen nicht vielleicht geträumt hätte".

Auch Vorsicht vor dem Erzähler legt diese Inszenierung von Anfang an nahe. Er mag allwissend klingen, aber er spricht doch von verschiedenen Punkten aus, mit unterschiedenen Perspektiven, die Buhlert hörbar, beinahe körperlich spürbar werden lässt.

Klaus Buhlert ist von der Musik zum Hörspiel gekommen, er hat für den Spielmacher George Tabori komponiert und ist heute der unangefochtene Großmeister der Literaturadaptionen, weil er die Werke, sei es von Musil, Joyce, E. T. A. Hoffmann, Bulgakow oder Canetti, mit den Mitteln der Radiokunst neu deutet. Vor sieben Jahren hat er Kafkas "Process" als Fragment inszeniert und dabei auf Hörspieltypisches wie atmosphärische Geräusche und Musik überwiegend verzichtet. In einem Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk, mit dem er viele preisgekrönte Hörspiele produziert hat, erklärte er seine Sicht auf den Unterschied zwischen Kafkas Romanfragmenten: Während Josef K. im "Process" von einem System heimgesucht und in dessen Abläufe verwickelt wird, sucht der K. des "Schloss"-Fragmentes einen Zugang, will seinen Platz finden.

Daher rührt das Querulantentum K.s, von dem man künftig schwer wird lesen können, ohne die Stimme Devid Striesows im Ohr zu haben. Das Ungehörige des Unzugehörigen, das Berechnende dessen, der wenig einzubringen hat, obwohl für ihn alles auf dem Spiel steht, das gesamte Instrumentarium eines schwachen, weil nicht anerkannten Ich bringt Striesow zum Klingen. Er behält dabei das Undurchdringliche eines Mannes, dessen Vergangenheit so unbekannt ist wie seine Absichten und die ihm zugedachte Position. Der Schuldienerposten, den der gerufene Landvermesser annimmt, ist doch nur eine peinliche Verlegenheitslösung.

"Mühselig sprach sie, man hatte Mühe, sie zu verstehen, aber was sie sagte ..."

Wenn ihm die Wirtin vom Brückenhof, Corinna Harfouch, mit mütterlich-fürsorglicher Aggressivität die Lage erklärt und den Kopf zurechtsetzt; wenn er sich mit der Wirtin vom Herrenhof, Margit Bendokat, in ein Gespräch über Damenmode verstrickt - möglicherweise ist K., Klaus Buhlert deutet es an, ein Damenschneider; wenn der Vorsteher Wolfram Berger nach Akten suchen lässt und, während diese nicht gefunden werden, die Perfektion der Verwaltungsmaschinerie erläutert; wenn der Beamte Bürgel, Johannes Silberschneider, die Freuden der Unzuständigkeit unter anwachsender Müdigkeit entwickelt - dann erlebt der Hörer Augenblicke der Schauspielkunst, gesteigert durch intelligente Regie. Dann erscheint alles klar und deutlich, obwohl doch das Geschehen immer undeutlicher wird.

Franz Kafkas Romanfragment, verfasst sieben Jahre nach dem "Process", gilt einer arg kleinen Welt. Ins Schloss kommt keiner, und das Dorf hat kaum mehr als zwei Gasthäuser und zwei Gassen. Aber diese kleine Welt ist nicht, wie sprachliche Routine es nahelegt, überschaubar. Im Gegenteil. Sie bietet trotz ihrer Enge Raum genug für romantische, groteske, bedrohliche, lächerliche, unverständliche, aber immer dramatisch fruchtbare Ereignisse. Schnee und Müdigkeit dämpfen üblicherweise die Lebensenergien, in diesem Fall befördern sie die Konzentration.

Mit seinen Traumsequenzen und Musiktableaus gliedert und rhythmisiert Klaus Buhlert das Geschehen, auch dann, wenn der Text des Fragments aus langen Monologen besteht. Am Ende, so hat es Kafka geschrieben, reichte eine Mutter, Gerstäckers Mutter, dem K. die Hand "und ließ ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach sie, man hatte Mühe sie zu verstehen, aber was sie sagte" - Wer wissen will, was sie gesagt haben könnte, der kann nun dieses zwölfteilige Hörspiel anhören. Was Kafka uns mit dem "Schloss" eventuell hat sagen wollen, weiß man danach auch nicht. Aber was er gesagt hat, war bislang so klar und schön nicht zu hören.

Franz Kafka: Das Schloss. Hörspiel. Bearbeitung, Musik und Regie: Klaus Buhlert. Mit Michael Rotschopf, Devid Striesow, Gerti Drassl, Deleila Piasko, Sandra Hüller, Samuel Finzi, Margit Bendokat, Corinna Harfouch, Jens Harzer, Bibliana Beglau u. v. a. Der Hörverlag, München 2017. 12 CDs, 615 Minuten, 49,99 Euro.

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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