Jugendbuch:Nach Worten angeln

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In Simon van der Geests neuem Roman "Das Abrakadabra der Fische" treffen ein Mädchen und ihr schweigsamer Großvater aufeinander und ein schwieriges Stück Familiengeschichte wird endlich geklärt.

Von Siggi Seuß

Jedes Mal erstaunt es aufs Neue: Welch menschliche Dramen selbst in den idyllischsten Nischen der Landschaft verborgen liegen! Wir könnten jetzt geruhsam in einem Boot auf einem der unzähligen Kanäle durch eine frühlingsfrische holländische Polderlandschaft schippern. Wir zögen an zufrieden grasenden Schafherden vorbei und an genüsslich vor sich hinkauenden fetten Kühen. Am Horizont grüßten uns pittoreske Windmühlen, und wenn wir Glück hätten, begegneten wir auf dem nächsten Dorfplatz Frau Antje hinter einem Käsestand. Aber nein! Der junge niederländische Autor Simon van der Geest stellt uns Leser einfach auf dem Bootssteg eines Bauernhofs ab und überlässt uns der Erzählung seiner jungen Heldin, in seinem neuen Roman "Das Abrakadabra der Fische". Schon erfahren wir von Vonkie, wie sie sich mit ihrem starrköpfigen Großvater herumärgern muss. Er ist zwar lieb, wenn er mit ihr am Kanal sitzt, schweigt und Aale angelt. Aber man muss ihm die Worte förmlich unter seinem majestätischen Schnauzer hervorziehen. Die Zwölfjährige wird eine Woche mit ihm auf dem Hof leben müssen, nachdem die Eltern Zoff miteinander haben und Zeit brauchen, die Dinge für sich zu regeln. Welche, das weiß Vonkie nicht. Als ob das allein nicht schon genügen würde, ihr Selbstvertrauen zu erschüttern, ist Opa auch nicht gerade der Mensch, dem man sein Herz ausschütten könnte. Im Gegenteil, etwas nagt an dem alten Mann, etwas, das mit seiner Kindheit und seinen sechs Brüdern zu tun haben muss. Vor allem mit jenem Bruder, der ihm am nächsten war, gerade mal zwei Jahre älter. Durch dick und dünn sind die beiden gemeinsam gegangen - bis etwas geschah, das diese Freundschaft jäh beendete. Dass Vonkie allein diese Geschichte aus ihrem Großvater herauskitzelt, scheint bereits ein kleines Wunder zu sein.

Spätestens hier beginnt Simon van der Geests unverwechselbare Kunst des Erzählens, die er bereits in seinem Roman "Krasshüpfer" meisterlich vorführte. Schritt für Schritt, aber nicht ohne Humor, legt er das Familiendrama hinter dem Idyll frei. Nicht zu langsam, nicht zu schnell. Von Szene zu Szene steigt die Spannung. Als würden wir einen Vorhang nach dem anderen beiseiteschieben, um immer tiefer in ein Zimmer voller Geheimnisse vorzudringen. Sein wichtigster Kunstgriff besteht in der Charakterzeichnung seiner Hauptperson. Die junge Heldin ist zwar durch die familiären Umstände stark verunsichert, aber in ihr wächst eine von Lebensfreude und Neugierde gespeiste Kraft, die sogar ihren Großvater - seit Kindheit "Eisen" genannt - erweichen lässt. Sicherlich hat Vonkie noch nie etwas von Sokrates gehört, aber seine Hebammenmethode, mit der er sein Gegenüber zum Sprechen brachte, die beherrscht sie gut. Und so entsteht in wechselweiser Erzählung von Enkeltochter und Großvater - in einer der letzten Übersetzungen von Mirjam Pressler - ein großartiger Roman über die Kunst des Miteinanderredens.

Simon van der Geest : Das Abrakadabra der Fische. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. Vignetten von Almud Kunert. Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart 2019. 320 Seiten, 15 Euro.

© SZ vom 20.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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