Jugendbuch:Der Trost der Tomaten

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Kristin Höller erzählt von Brüchen im Leben mit 20. Es geht um einen jungen Studenten, der plötzlich versuchen muss, einen eigenen Weg im Leben zu finden.

Von Antje Weber

Ausgerechnet der Speer der Athene. Noah hat ihn in der Nacht zuvor abgebrochen, als er am Ende einer alkoholreichen Party auf der Bronzestatue auf dem Münchner Königsplatz herumgeklettert war. Jetzt liegt der Speer in einem gemieteten Transporter, und Noah und sein Freund Martin wollen ihn unauffällig verschwinden lassen. Wohin aber fahren zwei Jungen Anfang zwanzig, wenn sie nicht mehr weiterwissen? Nach Hause, schon klar.

Dabei ist das sechs Stunden entfernte Provinzkaff am Mittelrhein so ziemlich der letzte Ort, an den es den Ich-Erzähler Martin gerade zieht. Eine "Zwischengegend", nicht Stadt, nicht Land, mit Fenchelfeldern, einer Fabrik für Tiefkühlkost und fleißig vor sich hin schaffenden Eltern in einem Reihenhaus mit einer getöpferten Schnecke am Eingang. Ein Hort der Spießigkeit, aus dem Martin zwei Jahre zuvor in die Großstadt geflohen ist. Doch nun kommt alles wieder hoch: die Erinnerungen an die erste Liebe Mugo, an die Träume von damals, an die Wut. Und es wird Zeit, sich einzugestehen, dass in der Zwischenzeit nicht alles blendend gelaufen ist.

Was tun, wenn die ersten Aufbrüche im Leben vorbei sind und stattdessen die Brüche sichtbar werden zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Davon erzählt Kristin Höller in ihrem Debütroman "Schöner als überall" für junge Erwachsene; er wurde bereits mit einem Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium ausgezeichnet und bekommt hoffentlich noch sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Denn der Dresdener Studentin (Jahrgang 1996) gelingt es, ihr literarisches Talent immer wieder in großartigen Szenen mit witzigen Dialogen auszuspielen: Ob sie nun Tankstellen-Begegnungen, ein Grillfest mit Eltern oder einen Showdown am Baggersee beschreibt, immer entwickelt sie dabei sehr nachvollziehbar die Gedanken und widerstreitenden Gefühle des Protagonisten weiter.

Denn in diesem Coming-of-Age-Roman muss der sensible Normalo Martin, der sich bisher überwiegend willenlos an andere Menschen gehängt und angepasst hat, endlich herausfinden, was er selbst will im Leben. Er muss sich in mehreren Phasen vom egozentrischen besten Freund Noah lösen, er muss seine Liebe zur angehimmelten Mugo aufarbeiten, einer so hellsichtigen wie heftig wütenden jungen Frau aus einer Familie ohne Geld und Chancen. Und er fängt an, das Leben differenzierter zu sehen als bisher, auch die Grautöne zwischen Schwarz und Weiß wahrzunehmen.

All das schildert die Autorin Mut machend, ohne je besserwisserisch zu wirken. In der Suche nach Antworten auf die großen Fragen lässt sie ihre Figuren sehr zart und weise auch ihr Scheitern eingestehen. Große Lösungen, das macht sie klar, kann man sowieso nicht immer erwarten. Höller zeigt eher die kleinen auf, die mit Wärme zu tun haben, mit Vertrauen. So kann Martin am Ende die Fürsorge der Mutter anerkennen, die ihn ausgerechnet mit Tomaten trösten will. Und wer weiß, vielleicht wird auch Martin eines Tages wieder mit Mugo auf einem Bahnwärterhäuschen im Nachbarort sitzen und auf die Gleise schauen. Vielleicht ist es dort, wie sie immer schon wusste, ja tatsächlich schöner als überall. (ab 14 Jahre)

Kristin Höller: Schöner als überall . Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2019, 219 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 24.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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