Jürgen Flimm zum 70.:Auf der Nachtseite der Vernunft

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Er ist ein eventuell bissiger, aber mittlerweile rheinisch gelassener Theater-Entertainer: Der praxiskluge Bühnenleiter und Opernstreiter Jürgen Flimm wird siebzig.

Wolfgang Schreiber

Werktreue - ein einziger Irrtum. Die Gegenposition, das Regietheater - der böse Zwillingsbruder der Werktreue. Jürgen Flimm, Regisseur und Intendant der Berliner Staatsoper, hält eine Rede in der noblen American Academy zu Berlin. Es ist mehr als nur ein wohlformulierter Vortrag, es ist eine verbale Performance, vor ein paar Monaten "aufgeführt".

Jürgen Flimm hat als Regisseur dem Theater so obsessiv gedient, dass er irgendwann die Oper entdecken musste. (Foto: dapd)

Eine Replik auf Peter Gelb, den Manager der New Yorker Metropolitan Opera, der am selben Ort das deutsche Regietheater attackiert hatte: Das schere sich arrogant nur um seine Deutungshoheit, nicht um die Zuschauer, so Gelb. Flimm will den ernsten Diskurs gar nicht führen, er unterläuft ihn (schau)spielerisch, geradezu zirzensisch locker.

Flimm präsentiert die Grundeinsichten eines langen Lebens für die Bühne, also: Auf dem Theater und in der Oper gibt es keine bleibenden Perspektiven, Hamlet öffnet sich vielen Gesichtern und Deutungen unserer Gegenwart, er ist "ein Schwamm, der alles in sich aufsaugt, gerade auch die Gegenwart".

Alles ist Theater im Theater, nur auf den Moment bezogen. Und auch der Skandal von einst verfliegt mit der Zeit. Zwei Beispiele? Patrice Chéreaus einst umkämpfter Bayreuther "Ring" 1976, heute auf DVD dokumentiert, eingefroren, ist ein entschärftes Kunstwerk. Ebenso der "Othello" von Peter Zadek. Man findet in diesen Entwürfen und Aufführungen überhaupt nicht mehr den Skandal, den Grund, warum sie so umstritten waren.

"Die Nachtseite der Vernunft" wählte Jürgen Flimm 2007 zum Motto für seine erste Saison als künstlerischer Leiter der Festspiele Salzburgs. Anders gesagt: die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit von Kunst-Leben. Da hatte der Mann, der 1941 in Gießen geboren wurde, in Köln aufwuchs und dort Literatur- und Theaterwissenschaft sowie Soziologie studierte, bereits eine lange Regisseurs- und Intendantenkarriere hinter sich gebracht, an zwei großen Schauspielhäusern, Köln (bis 1985), danach Hamburg, Thalia Theater (bis 2000).

"Übermalung", den Begriff aus der bildenden Kunst hat er einmal gebraucht, um zu zeigen, was die Regie auf der Bühne mit der Literatur anstellt - "auf etwas Altem das Neue praktizieren, dass wir dahinter schauen mögen, neugierig nach dem, was war".

Flimm hat als Regisseur dem Theater so obsessiv gedient, dass er irgendwann die Oper entdecken musste - 1978 gleich mit einer Tat, der Frankfurter Inszenierung von Luigi Nonos visionärer Szenen-Aktion "Al gran sole carico d'amore". Danach kam die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt im Zeichen Mozarts, folgten Regiearbeiten in Mailand, New York, London, Berlin, Hamburg, Zürich - bis hin zum größten Opernprojekt überhaupt, dem Bayreuther "Ring" mit Giuseppe Sinopoli am Pult.

Und die Oper hält Jürgen Flimm bis heute fest im Griff - er sie und sie ihn. Zwar war er, als Nachfolger Gerard Mortiers, noch einmal Gesamtkunstleiter, drei Jahre bei der Ruhrtriennale, bis 2007, aber die vier Spielzeiten bei den Salzburger Festspielen markieren doch den Höhepunkt - mit dem Akzent auf der Moderne, Flimms persönlichem Triumph.

Denn auf Nonos "Al gran sole" in den kühl faszinierenden Bildern Katie Mitchells folgte vorigen Sommer die denkwürdige Uraufführung von Wolfgang Rihms "Dionysos". Flimms Kritik an Salzburg, die ihn lustlos machte: wachsende Kommerzialisierung. Und zwischen all den Schauplätzen war er irgendwann Hochschuldozent in Harvard und in Hamburg, spielte er zweimal im "Tatort" mit, in Thomas Braschs Spielfilm "Engel aus Eisen".

Flimm ist der praxiskluge, bestens - bis ins Schröder'sche Bundeskanzleramt - vernetzte Theatermensch der Republik. Und seit 2010 neben Primus Barenboim Intendant der Berliner Staatsoper, der Ost-West-Umzugsabenteurer im Schillertheater.

Nein, Jürgen Flimm ist kein diskursiver Intellektueller, sondern mit seiner scharfen, hemdsärmelig ausgelegten Intelligenz ein Handelnder, manchmal auch Schauspieler seiner Überzeugungen, der eigenen Person, der Mimik und Stimme.

Ein eventuell bissiger, aber mittlerweile rheinisch gelassener Theater-Entertainer - für eine Institution der "ruhende Pol". Noch am Rednerpult kann Flimm die Themen so souverän "durchspielen", dass er selbst plötzliches Handyklingeln noch zum Teil seines Plädoyers für die ästhetische Moderne macht, nämlich die Gegenwart des Theaters. Möge er das noch lange tun können, am Sonntag wird er rüstigerweise siebzig.

© SZ vom 16.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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