Jüdisches Leben im 19. Jahrhundert:Klingt hässlich, ist aber reizend

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Eine schöne Liebesgeschichte, zwischen Sophie und Otto aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Glücksfall - die Briefe, die sie sich schrieben, sind erhalten geblieben.

Von Rainer Stephan

"Mein Geliebter! Dein Kuss hat meine Lippen noch nicht verlassen, und darum will ich auch physisch Dir nahe sein, und meine Hand auf das Blatt legen, das Dir morgen den ersten schriftlichen Liebesgruß von Deiner Braut bringen soll."

Hamburg, am 15. April 1867: Eine Woche ist es her, dass sich die 26-jährige Sophie Isler mit dem vier Jahre älteren Braunschweiger Rechtsanwalt Otto Magnus verlobt hat; beide stammen aus jüdischen Familien, die sich dem deutschen Bildungsbürgertum zurechnen. Sie werden sich jeden Tag schreiben, haben die Verlobten vereinbart. Auch wenn das Schreib-Intervall bald auf zwei Tage heraufgesetzt wird, entstehen so bis zur Hochzeit am 6. Oktober Hunderte Briefe. Sie alle wurden aufbewahrt, ebenso diejenigen, die die Verlobten mit ihren Eltern und künftigen Schwiegereltern wechselten - und gerieten so, zusammen mit weiteren Familienbriefen, schließlich in den Besitz von Sophie Islers Enkelin Hannah Peters, die sie allesamt in lesbare Maschinenschrift transkribierte.

"Was einmal am Ende aller Tage daraus wird", hatte Sophie über die Briefsammlung geschrieben, "ist ja ganz einerlei." Von wegen! Für die Autorin Martina G. Herrmann war es ein Glücksfall, dass Hannah Peters, eine entfernte Kusine ihres Mannes, ihr einen beträchtlichen Teil der Sammlung zur Auswertung übergab. Und zum Glück für Leser reicht diese Auswertung weit über die bloße Veröffentlichung der Briefe hinaus. Der Autorin gelingt es auf eindrucksvolle Weise, die gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten anschaulich zu machen, innerhalb derer sich diese Verlobungsgeschichte abspielt.

Dass sich in ihr das Individuelle, auch das Emotionale, immer wieder mit dem sozialhistorischen Hintergrund verknüpfen, macht den ganz besonderen Reiz von Martina G. Herrmanns Projekt aus. Wenn beispielsweise Otto auf den bei aller züchtigen Stilisierung doch sehr emotionalen ersten Brief seiner Verlobten mit der prosaischen, wenn auch in Versalien gesetzten Mitteilung antwortet, er habe am Tag nach seiner Rückkehr eine "Wohnung GEMIETET", tun sich gleich mehrere soziologische Aspekte auf: Zunächst die spezifische Kompetenzteilung (sie ist für Gefühle zuständig, er fürs planende Handeln); dann aber auch die materiellen Bedingungen fürs Zustandekommen einer Heirat, wobei Ottos Bericht über die recht stattliche angemietete Wohnung auch als Nachweis seiner finanziellen Potenz gegenüber den Hamburger Schwiegereltern zu lesen ist.

Ein grauer oder ein bunter Teppich? Die Verlobten stritten fünf Monate darüber

Doch mit eindeutigen soziologischen Zuschreibungen kommt man der Entwicklung wie den im Briefwechsel minutiös entfalteten Details dieser Verlobungsgeschichte so gut wie nie bei. Das liegt an den heftig aufgeladenen Spannungsfeldern, die sie prägen: Zum einen der Widerspruch zwischen Sophies (von ihrer Mutter Emma übernommenen) Bild der Frau als geistig eigenständiger Persönlichkeit und ihrer allmählicher Anpassung an eine paternalistische Ehepraxis, zum anderen der oft mühevolle Versuch der jüdischen Mittelschichten, am Aufstieg des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert teilzunehmen, ohne die jüdische Identität ganz aufzugeben.

Um diese Spannungen spürbar zu machen, genügt schon der briefliche Dialog über einen bunten türkischen Teppich, den Sophie sich für die gemeinsame Wohnung in Braunschweig wünscht. "Es liegt einer bei Liebermann im Fenster, in den ich verliebt bin", schreibt Sophie: "Dunkelbrauner Grund", mit Carrés von goldgelben Girlanden, "und in jedem Carré eine Figur, gelb mit grün gefüllt. Es klingt hässlich, ist aber reizend." Otto geht sofort auf Gegenkurs: "Mir würde ein kleines graues Muster am liebsten sein."

Abgesehen vom Mentalitätsunterschied zwischen dem preußisch-konservativen und stets auf nüchterne Gediegenheit achtenden Otto und der im Geiste ihrer liberalen, viel mit Künstlern und Wissenschaftlern verkehrenden Familie erzogenen Sophie spielt hier noch anderes mit: Wie viele seiner jüdischen Zeitgenossen versuchte der aufstrebende Advokat Otto Magnus, peinlichst alles Auffällige oder gar Protzige zu vermeiden, um nur ja nicht den "Risches" - das "typisch jüdisch!" der Antisemiten - zu provozieren.

Doch Sophie lässt nicht locker; als Otto nicht nachgibt, versucht sie es mit kleinen Tricks - ihr Hamburger Onkel, behauptet sie zum Beispiel, würde dem Paar just den Türkenteppich und keinen anderen zur Hochzeit schenken. Die Auseinandersetzung um den Teppich zieht sich über fünf Monate hin, bis Sophie kurz nach der Hochzeit klein beigibt, nicht ohne noch ein bisschen nachzumaulen: Der graue Teppich sei, schreibt sie ihrer Mutter, "für meinen Geschmack etwas zu hell, um das Zimmer wohnlich zu machen." Worauf die Mutter antwortet, der Hamburger Onkel habe "ein Hohngelächter aufgeschlagen über den Braunschweiger Geschmack".

Der durch Martina G. Herrmann mit den Verhältnissen vertraut gemachte Leser spürt spätestens hier, dass es in der Teppichfrage um weit mehr ging als um Geschmacksfragen: Hinter Emma Islers Mitteilung über das Hamburger Hohngelächter verbirgt sich die Resignation der Mutter, die sich nicht nur mit dem Verlust der Nähe zu ihrer Tochter abzufinden hat, sondern auch mit den Konventionen einer Zeit, in der weibliche Selbständigkeit als unvereinbar mit dem Rollenbild der bürgerlichen Gattin erschien.

Was nicht heißen soll, dass sich Sophie ihrem Mann bedingungslos unterwerfen würde. Nicht nur sie versucht von Anfang an mit großem Nachdruck und viel Geduld, das dauernde und dauernd argumentierende Gespräch als wesensnotwendige Bedingung einer Ehepartnerschaft zu etablieren; auch Otto lässt sich - solange sein bürgerlicher Status davon nicht tangiert wird - darauf ein. Er zeigt sogar mildes Verständnis, wenn Sophie ihr dringendstes Problem artikuliert: die Angst vor der Trennung von der Mutter: "Vor einer Stunde sprach ich mit Mutter davon, dass so manche Männer, wenn sie lieben, ihr Mädchen ganz für sich haben wollen und sie allen früheren Beziehungen entfremden."

"Die Hochzeit der Töchter als Katastrophe im Leben der Mütter" heißt denn auch ein Kapitel dieses Buchs; es ist Teil eines großen Exkurses der Autorin zum Thema "Frauenbildung und Frauenleben im 19. Jahrhundert." Wie in dem anderen großen Abschnitt über den Prozess der jüdischen Akkulturation greift Herrmanns Darstellung hier weit über die Verlobungsgeschichte hinaus - und liefert damit neben ihrer Quellenanalyse zugleich einen bedeutenden Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts.

Zu alledem stellt das Buch auch eine bemerkenswerte literarische Leistung dar. Bei aller Genauigkeit bleibt die Sprache stets verständlich. Auch die leserfreundliche Entscheidung, sämtliche Briefzitate in roter Farbe zu setzen, steigert das Vergnügen an der Lektüre dieses außergewöhnlichen Buchs.

© SZ vom 02.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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