Jubiläum:Strukturelle Vernunft

Lesezeit: 2 min

Hermann Lübbe. (Foto: dpa)

Ein Gelehrter, der bis heute unermüdlich an einer Analyse der Gegenwartsprobleme arbeitet und dabei immer empirisch interessiert geblieben ist: Der Philosoph Hermann Lübbe feiert an diesem Samstag seinen 90. Geburtstag.

Von Johan Schloemann

In Münster in Westfalen geschah nach dem Zweiten Weltkrieg etwas, was die Ideengeschichte "die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik" genannt hat. Im Kreis des Philosophen Joachim Ritter wurde dort betrieben, was aus heutiger Sicht bitter nötig war und ist: die Versöhnung des Konservativismus mit Demokratie und Pluralismus. Das ist zwar nur ein Schlagwort für die verschiedenen, sehr skrupulösen philosophischen und staatsrechtlichen Projekte, die aus jener Denkerrunde hervorgingen, aber ihr Ergebnis trifft es doch.

Es ging darum, die unersättliche Dynamik der westlichen Moderne mit einer skeptischen Systemstabilisierung zu verbinden, politisch wie geistig. Viele Namen wären da zu nennen, aber besonders exponiert und bekannt waren Odo Marquard, der 2015 gestorben ist, und, weniger von tragischem Witz umhaucht als dieser, Hermann Lübbe, der an diesem Silvestertag neunzig wird. Lübbe war Professor an den Nachkriegsbetonuniversitäten Bochum und Bielefeld und im damals fortschrittsoptimistischen Nordrhein-Westfalen auch zeitweise Staatssekretär, bevor er dann lange in Zürich lehrte.

Hermann Lübbe hat unermüdlich, und oft mit zusammengesetzten Substantiven, an einer vernünftigen, empirisch interessierten Analyse von Gegenwartsproblemen sowie der Philosophiegeschichte gearbeitet und tut das bis heute. Er schaltete sich regelmäßig in der Öffentlichkeit als Intellektueller ein, auch wenn er genau diese Charakterisierung verachtet, weil sie meist mit Ideologie und Eitelkeit einhergehe. Seine handfeste Neugier auf die Realität und zugleich seinen breiten theoretischen Horizont belegen zahlreiche Schriften, aber auch die Tatsache, dass er neben der Neuen Zürcher Zeitung auch die Ostfriesischen Nachrichten aus seiner Heimat abonniert und sich dort über den Nahbereich kundig macht.

Was die Linke in den Sechziger- und Siebzigerjahren als Affirmation des Kapitalismus und der "strukturellen Gewalt" diffamierte, heute aber als Bollwerk gegen Populismus und Fremdenfeindlichkeit zu schätzen weiß - also Republik, Parlament, Rechtsstaat -, das suchten die Liberalkonservativen mit einem illusionslosen Menschenbild zu verteidigen. Im Kampf gegen Radikalismus und marxistische Geschichtsphilosophie schossen sie, auch Lübbe, mitunter über das Ziel hinaus ("Endstation Terror"). Aber auch wenn das Konzept einer kulturellen "Kompensation" der Moderne umstritten blieb, so hat doch Lübbe immer wieder scharf und früh in den Blick genommen, womit wir uns heute herumschlagen: die Risiken der Expertenherrschaft; das wachsende Bedürfnis nach Plebisziten; die Beharrlichkeit des nationalen und regionalen Rahmens gerade in der Globalisierung; die Bedeutung von Religion und Zivilreligion nach Aufklärung und Säkularisierung. Lübbes bleibender Auftrag ist es, die Spannung zwischen Bindungen und Emanzipation zu bedenken - aber nicht, sie für auflösbar zu halten, wie es die großen Simplifizierer tun.

© SZ vom 31.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: