Letzte Texte von Joseph Mitchell:Der große Bluff

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Das Terrain des Reporters Joseph Mitchell: Straßenszene in Harlem (Foto: Susan Schiff Faludi/Getty Images)

Joseph Mitchell war unter den großen Reportern seiner Zeit vielleicht der begabteste. Seine letzten Texte sind jetzt auch auf Deutsch zu lesen.

Von Xaver von Cranach

Joseph Mitchell gehört zu jenen Autoren, die man nicht unbedingt besser versteht, wenn man ihr Werk von ihrem Leben trennt. In den USA ist Mitchell schon lange eine Reporterlegende, im deutschsprachigen Raum macht der Zürcher Diaphanes-Verlag seine Texte gerade wieder zugänglich. Vier Bände sind dort mittlerweile erschienen, sie enthalten Mitchells gesammeltes journalistisches Werk. Gewissermaßen als Abschluss ist jetzt der Band "Street Life" erschienen. Er enthält, wie soll man es nennen: seine Autobiografie? Sein Vermächtnis? Seinen Abfall?

Mitchell, der im südlichsten Zipfel North Carolinas aufwuchs, zog mit 21 Jahren nach New York. Als er aufbrach, war die Welt noch in Ordnung, als er ankam, war es Freitag, der 25. Oktober 1929, ein Tag nach dem Schwarzen Donnerstag, dem Börsencrash. In diesen Crash, in diesen Abwärtsstrudel hinein begann er seine journalistische Karriere. Erst bei Tageszeitungen wie der New York Herald Tribune oder der World-Telegram, ab 1938 beim Magazin New Yorker, das er nicht mehr verlassen sollte, bis er 1996 starb.

Mitchell ist so etwas wie der Inbegriff des Straßenreporters geworden. Statt über Politiker und Wirtschaftsbosse schrieb er über Hafenarbeiter und Sexarbeiterinnen, über Obdachlose und Kneipenwirte, über Streifenpolizisten und Drogensüchtige und Kinobetreiberinnen. Er erschloss sich die Stadt gewissermaßen von unten:

"Kneipenwirte", kann man in einer seiner Reportagen aus der Anfangszeit nachlesen, "sind für Reporter in New York City von großem Nutzen. Wenn jemand plötzlich in die Nachrichten gelangt - ein Glückspilz beispielsweise, der etwas bei den Irish Sweepstakes gewinnt, oder eine Frau, die ihren Schatz aus Liebe umbringt -, dann erhält der Reporter oftmals ein treffendes Bild der fraglichen Person, indem er mit dem Kneipenwirt, dem Sandwichladenbesitzer, dem Bestatter (die Hälfte der Bewohner ärmerer Viertel schuldet dem Bestatter Geld) und dem Krämer redet."

Mitchell, der Künstler unter den Reportern, hat nie ein Storytelling-Seminar besucht

In seinen Geschichten trete das Personal auf, das man sonst bei Gogol oder James Joyce fände, schrieb die New York Times in ihrem Nachruf. Salman Rushdie nennt Mitchell einen "verborgenen Schatz", einen "Journalisten als Künstler". Tatsächlich wirken die meisten Reportagen eher wie Kurzgeschichten. Nicht, weil man den Verdacht hat, dass sich hier jemand was ausdenkt. Sondern weil es keine manierierte Struktur gibt. Es gibt keinen sogenannten Einstieg, keinen Hauptteil, keine Höhepunkte oder Plotpoints. Keine Heldenreise. Mitchell hat nie ein Storytelling-Seminar besucht. Seine Texte lesen sich wie das Transkript eines Diktiergerätes, das den ganzen Abend mitgelaufen ist. Natürlich bearbeitet. Aber nie auf einen Effekt hin konstruiert.

Es ist genau diese literarische Qualität, diese Intensität, die sich nicht durch Pathos oder Übertreibung, sondern durch Lakonie und Reduktion ergibt, die auch seine Memoiren so lesenswert machen. "Street Life" besteht aus drei Texten, etwa zwanzig Seiten lang jeder. Als sie 2013 im New Yorker erschienen, war die Aufregung groß - lange hatte man gewartet. Denn Mitchell hatte die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens nichts mehr veröffentlicht.

Schreibblockade hat man das lange genannt. Wobei es wohl eher die Folge seiner schweren Depressionen war, wie man im Nachwort der nun erschienenen Ausgabe nachlesen kann. Jeden Tag kam er in sein Büro, er schaffte es sogar, noch eine Gehaltserhöhung herauszuhandeln. Aber nach 1964 publizierte er keinen einzigen Artikel mehr. Er schrieb angeblich an einem großen Werk, einer allumfassenden Geschichte New Yorks, einer großen Erzählung über seine Heimat in den Südstaaten. Er häufte Notizen an, Aktenordner, Interviews, Stadtpläne, Gebäudeskizzen - und schrieb nichts, was er für brauchbar hielt. Der Hausmeister lehrte jeden Tag den mit zerknüllten Papieren vollgestopften Mülleimer aus. Bis auf diese drei Texte, die Mitchells Meinung nach fertig waren, gab er nichts zur Veröffentlichung frei.

Die Texte lesen sich, als würden sie am liebsten gar nicht existieren

Das Ganze wird dadurch noch tragischer, dass Mitchells letzte veröffentlichte Reportage vor der Schreibblockade von genau so einem Menschen erzählt: Es ist die Geschichte von Joe Gould, einem stadtbekannten Exzentriker, der angeblich an einem Mammutwerk mit dem Titel "An Oral History of Our Time" arbeitete, mit neun Millionen Wörtern, und der seine Notizen und Schriften in großen Papiertüten mit sich herumtrug. In den Papiertüten steckten allerdings nur weitere Papiertüten, wie Mitchell irgendwann herausfand, es gab kein einziges geschriebenes Wort dieses Werkes. Diese unheilvolle Verschmelzung von Mitchell mit seinem letzten Protagonisten trug natürlich zur Mythenbildung bei.

Auch die Texte in "Street Life" lesen sich so, als würden sie am liebsten gar nicht existieren. Als würden die Buchstaben versuchen, sich selbst die Tinte zu stehlen. Im ersten Text schildert Mitchell, wie er sich immer einsamer und fremder fühlt in New York. Nicht, weil er die Stadt nicht mehr versteht. Sondern weil umgekehrt, auf ihm unerklärliche Weise, er der Stadt abhanden kommt. Im zweiten Text beschreibt er seine Kindheit im ländlichen Süden. Im dritten berichtet er davon, wie er anfing, auf einmal nur mehr "in der Vergangenheit zu leben". Seine Umschreibung für die beginnende Depression.

Joseph Mitchell: Street Life. Erinnerungen aus der Stadt meines Lebens. Aus dem Englischen von Sabine Schulz. Diaphanes, Zürich, 2021. 104 Seiten, 15 Euro. (Foto: N/A)

Was sich durch die Texte zieht, ist zum einen der für Mitchells Reportagen typische Detailreichtum. Zeilenlange Aufzählungen, von Straßennamen, von Figuren und Beschreibungen von Häuserfassaden. Zum anderen leben die Texte vor allem durch ihre Lücken, die sich nicht selten als Abgründe entpuppen. Ständig wird die große Geschichte angekündigt. "Jetzt muss ich aber zur Sache kommen", heißt es dann, oder "In mir vollzog sich eine Veränderung. Und eben davon möchte ich erzählen". Nur dass dann nichts erzählt wird. Welche Veränderung? Welche Sache?

Letztlich ist "Street Life" ein einziges nicht eingelöstes Versprechen. Man könnte das für einen großen Bluff halten. Eine Geste, die verschleiert, dass da jemand einfach nichts mehr zu sagen hatte. Das Gegenteil ist der Fall. Fast 3o Jahre, drei kleine Texte. Wie viel Joseph Mitchell erlebt hat, wie viel er zu erzählen hatte, all das lässt sich ermessen eben gerade durch das, was nicht mehr gesagt wird. Nicht nur, weil man ohnehin seine Reportagen noch lesen kann. Sondern weil man jedem Satz, den man hier liest, die Mühe, das Leid und die Freude anmerkt, die es gekostet haben muss, ihn dem Abgrund abzutrotzen.

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