Was für ein Buch! Was für eine Geschichte! Elend und Poesie, knochenharte Tatsachen, Geister und Magie, Archaisches und Gegenwärtiges, Leben und Tod, sie liegen in Jesmyn Wards Roman "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt!" ganz nah beieinander. Dass die schwarz-amerikanische Autorin, die 2011 für "Vor dem Sturm" mit dem National Book Award ausgezeichnet worden war, den Preis gleich mit dem nächsten Roman als erste Frau ein zweites Mal gewinnen konnte, es verwundert keinen Augenblick. Mit seinen Bildern und Lebensgeschichten aus einer uns zutiefst fremden, dabei kulturell wie zeitlich eigentlich doch nicht fernen Welt ist dieser Gesang von Lebenden und Toten eine umwerfende Leseerfahrung.
Für die es allerdings gute Nerven braucht. Elend nämlich sind nicht nur die Lebensverhältnisse in der Familie des alten Schwarzen River Stone, elend ist insbesondere der radikal selbstbezogene Umgang seiner Tochter Leonie mit ihren beiden Kindern, Jojo und Kayla. Und das Vertrauen, dass die Toten unter uns sind und uns erscheinen können, braucht es auch. Sie verlangen, die Geschichte ihres zumeist grausamen Endes kennenzulernen, denn erst dann dürfen sie "nach Hause" zurückkehren, und darum geht es hier insgesamt: seinen eigenen Ort, seine Zugehörigkeit zu bestimmen, im Leben wie im Tod. Es geht um Gewissheit.
Gewissheit über sich selbst ist zum Beispiel notwendig, wenn es ans Schlachten geht. Der von seinem Enkel "Pop" genannte, trotz seines hohen Alters kräftige und zähe Großvater will für Jojo zu dessen 13. Geburtstag aus seinem sorgsam gehegten Tierbestand einen Ziegenbock schlachten. Jojo, der River nicht nur in seiner aufrechten Körperhaltung, sondern grundsätzlich in seiner Haltung dem Leben gegenüber nacheifert, will ihm zur Hand gehen. Auch er ist doch schon groß. Auch er hat keine Angst vor dem Tod und kann es aushalten, ein sterbendes Tier in seinem Blut zu sehen.
Doch da er zudem versteht, was die Tiere sagen, hält er es eben nicht aus. Während der Bock mit noch feuchten, ausdrucksvollen Augen ausblutet, flieht Jojo aus dem Stall.
Blut fließt hier gleich im ersten Kapitel, und es riecht auch nicht gut, denn so ist es mit dem Sterben, nicht nur dem der Tiere. Wenn die "Mam" genannte Großmutter nach einem synkretistischen Ritual, zu dem sie ihre drogenabhängige Tochter Leonie schließlich hat bringen können, gegen Ende des Buches am Krebs eingeht, wird auch hier nichts beschönigt, und das gilt für Wards Beschreibungen des Daseins im "Lost South" der USA im Ganzen. Armut ist im fiktiven Mississippi-Ort Bois Sauvage die eine Konstante, die andere ein alteingesessener Rassismus. Die äußere Verelendung entspricht einer inneren, Gewalt und Drogen sind die fast zwingende Folge - der Roman entwickelt in den einander abwechselnden Ich-Erzählungen von Jojo, seiner Mutter Leonie und der rastlosen Seele des ermordeten Jungen Richie, was das im Verlauf der vergangenen siebzig Jahre konkret bedeutet hat. Als 15-Jähriger ist Pop im Jahr 1948 unschuldig ins Gefängnis gekommen und hat dort Schuld auf sich geladen, paradoxerweise, um den 12-jährigen schwarzen Mithäftling Ritchie vor der Gewalt der weißen Männer zu schützen. Pops Schwiegersohn Michael wiederum, Vater von Jojo und Kayla, ist ein Weißer und sitzt seit drei Jahren im selben Gefängnis wie einst Pop. Dessen Tochter Leonie, fühllos und aggressiv gegen ihre Kinder und in ihrer panischen Liebe zu Michael unfähig, sich um sie zu kümmern, wurde während der High School schwanger. Seit drei Jahren schnupft sie Koks und wirft ein, was immer sie an Drogen kriegt: richtungslos in ihrem Leben, seit Michael zu seinem Vater, einem rassistischen Ex-Sheriff, und seiner nicht minder aggressiven Mutter zurückgekehrt ist - da war Kayla noch nicht einmal geboren.
Inzwischen arbeitet Leonie zusammen mit ihrer weißen Freundin Misty, deren schwarzer Freund im selben Gefängnis einsitzt wie Michael, in einer Bar, was sie verdienen, geht für Drogen drauf. Mams und Pops ältester Sohn Given schließlich, ein begabter, unbekümmerter 18-Jähriger, der womöglich eine Sportler-Karriere vor sich gehabt hätte, wurde vor zehn Jahren von Michaels rassistischem Cousin erschossen. "Du verdammter Idiot", sagte da dessen Vater. "Es ist nicht mehr wie früher." Ist es aber doch: Der Schwarze wird aus Hass erschossen, der Weiße geht straffrei aus.
Die Toten derweil erscheinen denjenigen, die eine besondere Wahrnehmungsfähigkeit besitzen - Jojo, Leonie, wenn sie im Drogenrausch ist, schließlich auch der kleinen Kayla, der Hellfühligsten unter ihnen. Die Geister von Richie und Given fragen und mahnen die Lebenden. Und sie wollen, dass deren Geschichte anders weitergeht.
Mit schnellen Dialogen, farbig, einfühlsam und voller Sinnlichkeit erzählt Jesmyn Ward von seit Jahrhunderten gesellschaftlich sanktionierter Rückständigkeit und Brutalität - aber eben auch von der Kraft derer, die sich ihr nicht ergeben wollen, Opfer und Nicht-Opfer zugleich. Ward selbst kennt diese Welt genau, sie kommt von dort: die Erste ihrer Familie, die ein College besuchte, die Universität Stanford mit zwei Abschlüssen verließ und heute als Professorin mit ihrer Familie wieder im Süden lebt. Dass sie die Verhältnisse so gnadenlos präzise und dennoch nicht ohne Hoffnung sieht, es dürfte seinen Grund in ihrer eigenen Biografie haben.
Im Roman sind es die Kinder, die für diese Hoffnung einstehen: Jojo, der für Kayla umsorgende Mutter und beschützender Vater zugleich ist, und Kayla, die in einer vorbewussten Verbindung mit ihren Vorfahren lebt. Beide wissen im Gespräch mit den Toten wie in ihrem klaren Blick auf die Lebenden mehr als alle anderen. Und sie sind Überlebende nach einer langen Reihe gequälter und entrechteter Vorgänger. Von Leonie ins Auto verfrachtet, um zusammen mit Misty auf einer wahnwitzigen Reise Michael aus dem Gefängnis abzuholen, stirbt das Kleinkind fast an Entkräftung, Jojo werden von einem Polizisten Handschellen angelegt, die Pistole spürt er schon an seinem Kopf - doch überstehen sie in ihrer Verbundenheit alles. Es ist Kayla, die am Ende zusammen mit den Geistern deren Lied singt: "Nach Hause, sagen sie. Nach Hause."